Hintergrund: Die sehr variablen, komplexen und dynamischen Situationen während der Versorgung von (Notfall-) Patienten verlangen vom Rettungspersonal bei jedem Einsatz eine Vielzahl von Entscheidungen unter teils erheblichen Unsicherheiten und großem Zeitdruck mit oftmals weitreichenden Konsequenzen.
Ziele: Diese Forschungsarbeit untersucht, mit welchen Zielen das Rettungspersonal seine Handlungsentscheidungen während der Versorgung von (Notfall-) Patienten begründet, welche Entscheidungskonflikte dabei auftreten und wie die Entscheidungsfindung unterstützt werden kann.
Studiendesign und Methoden: Für diese als qualitative Fallanalyse angelegte Arbeit wurden 23 problemzentrierte Interviews nach Andreas WITZEL (1982, 1985) mit berufs-erfahrenem Rettungspersonal aus verschiedenen Organisationen aus fünf Rettungsdienstbereichen in der Region Ostwestfalen-Lippe in Nordrhein-Westfalen geführt. Die Aus-wertung des Datenmaterials folgte dem Verfahren der Grounded Theory in der pragmatischen Entwicklungsrichtung von Anselm L. STRAUSS und Juliet CORBIN (1990, 1996), wobei als Modifikation ein gegenstandsbezogenes Kodierschema angewendet und als Ergänzung zwei Dossiers aus Interviewaussagen zu den Entscheidungsfeldern der Nachforderung eines Notarztes und der Durchführung von Wiederbelebungsmaßnahmen angefertigt wurden. Darüber hinaus erweiterte die Auswertung von quantitativen Einsatz- und Versorgungsdaten zur Durchführung von präklinischen Wiederbelebungen durch den Notarztdienst eines Rettungsdienstbereichs die Gegenstandsbetrachtung.
Ergebnisse: Die Entscheidung des Rettungspersonals in der Notfallrettung wird mit dem in dieser Arbeit entwickelten Modell des zielgerichteten rettungsdienstlichen Handelns dargestellt. Dieses Modell besteht aus den Komponenten der (Notfall-) Situation mit ihren Erfordernissen, des Entscheidungsprozesses mit seinen Konsequenzen und des persönlichen Zielsystems, die in einem prozessualen Kreislauf miteinander verbundenen und in gemeinsamen Bedingungen eingebettet sind.
Das Zielsystem rettungsdienstlichen Handelns als das Hauptergebnis dieser Arbeit umfasst 15 übergeordnete Ziele, die entsprechend ihres besonderen Bezugs auf den Patienten, das Rettungspersonal, die Situation oder die soziale Umwelt in vier Ziel-dimensionen geordnet sind und grundsätzlich gleichwertig und gleichberechtigt neben-einander stehen. Die Identifikation dieser Ziele ließ auf der inhaltlich-sachlichen Ebene eine Vielzahl von Zielkonflikten erkennen, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext grundsätzlich zwischen allen Zielen in unterschiedlich starker Ausprägung und Deut-lichkeit auftreten können. Die Einbettung des Zielsystems in das Modell des zielgerich-teten rettungsdienstlichen Handelns verdeutlichte außerdem den prozessualen Anteil der Entscheidungskonflikte.
Durch das Kodieren der Daten offenbarten sich neben den Komponenten des Modells auch die diese kennzeichnenden gemeinsamen Eigenschaften der Dringlichkeit, Sicher-heit, Reichweite, Konflikthaftigkeit und Selbstbezogenheit. Ihre jeweiligen Ausprägun-gen bilden sowohl für die einzelnen Komponenten als auch für die gesamte Entschei-dung ein besonderes Profil.
Zur Darstellung des Zielsystems mit seinen Zielbeziehungen sowie der Eigenschaften mit ihren Ausprägungen wurden Diagramme entworfen, die eine neue Möglichkeit aufzeigen, um die Entscheidungen und Entscheidungskonflikte des Rettungspersonals für eine Reflexion in der Einsatznachbesprechung, in der beruflichen Aus- und Fortbil-dung und nicht zuletzt in der gutachterlichen Untersuchung greifbar zu machen.
Als Unterstützungsmöglichkeiten zur Entscheidungsfindung des Rettungspersonals deuteten sich auf der inhaltlich-sachlichen Ebene vor allem die unmittelbare Verfügbar-keit von umfassendem strukturiertem Fachwissen aus allen rettungsdienstlichen Be-zugsdisziplinen sowie auf der prozessualen Ebene insbesondere die Vorstrukturierung von zu erwartenden Entscheidungen und die Verfügbarkeit von theoretischem Wissen sowie Kompetenzen zur Entscheidungsfindung an.
Diskussion und Schlussfolgerungen: Das Modell des zielgerichteten rettungsdienst-lichen Handelns gibt mit dem Zielsystem einen umfassenden und empirisch begründeten Blick auf die vom Rettungspersonal während der Versorgung von (Notfall-) Patienten angestrebten Ziele. Sowohl die von den Patienten und Dritten tatsächlich angestrebten Ziele als auch die zur Situationsdeutung, Entscheidung und Zielerreichung erforder-lichen Kompetenzen des Rettungspersonals bleiben hier jedoch weitgehend unbe-trachtet. Deren zukünftige Erforschung und Einbeziehung könnten dem Modell eine noch tiefere empirische Fundierung geben. Eine breitere empirische Fundierung und damit einhergehend eine gewisse Verallgemeinerung könnte das Modell erhalten, wenn auch die Entscheidungsbegründungen anderer Akteure in asymmetrischen Beziehungen untersucht und einbezogen würden.
Weil sich seit der Datenerhebung in den Jahren 2011/12 zwar die inhaltlich-sachliche Ebene der Entscheidungen des Rettungspersonals in der Notfallrettung weiterentwickelt haben, die prozessuale Struktur von Entscheidungen hingegen unverändert geblieben ist, bleiben das Modell des zielgerichteten rettungsdienstlichen Handelns und das darin enthaltene Zielsystem rettungsdienstlichen Handelns weiter aktuell.
Identifer | oai:union.ndltd.org:uni-osnabrueck.de/oai:osnadocs.ub.uni-osnabrueck.de:ds-202112225755 |
Date | 22 December 2021 |
Creators | Wittenberg, Olaf |
Contributors | Prof. Dr. Hartmut Remmers, Prof. Dr. Dr. Matthias Heuer |
Source Sets | Universität Osnabrück |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | doc-type:doctoralThesis |
Format | application/zip, application/pdf |
Rights | http://rightsstatements.org/vocab/InC/1.0/ |
Page generated in 0.0039 seconds