Das Konzept der Eigenverantwortung hat seit vielen Jahren Konjunktur – in der Ökonomie und im Management, in der Gesundheit und sozialen Absicherung und zunehmend auch in der infrastrukturellen Daseinsvorsorge (Einig 2008; Neu 2009a; Loring et al. 2011; Stein-führer et al. 2014a; Reese-Schäfer 2019). Der Bürger ist nicht mehr länger nur Konsument bereitgestellter Güter und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge, sondern soll auch als (Ko-)Produzent Verantwortung übernehmen. (Heinze und Olk 2001; Neu 2009b; Priller 2010; Pinl 2015; Steinführer 2015; BMFSFJ 2016a; Dehne 2019). Die Frage, ob der Ruf nach mehr Eigenverantwortung und mehr Engagement seitens der Bürger zur Sicherung der Daseins-vorsorge angenommen wird (Wiesinger 2007, S. 105; BMFSFJ 2016a, S. 288; MKRO 2016, S. 16 f.) und welche Aufgaben in diesem Bereich durch den Einzelnen übernommen werden können, wird zunehmend thematisiert und empirisch untersucht (Wiesinger 2007, S. 105; BMFSFJ 2016a, S. 288; Schwarzenberg et al. 2017; Kummel und Nadler 2018, S. 104; Neu-bauer-Beetz 2019; Schröder 2019).
Das Ziel der Arbeit ist die Untersuchung der Grenzen der angemahnten Verantwortungs-übernahme, das eigentliche Dilemma der Substitutionslogik (Nadler 2017). Am Beispiel des Landes Brandenburg wird die Frage, ob die Verantwortungsübernahme für die infra-strukturelle Daseinsversorgung durch den Einzelnen erfolgt ist und welche Reserven bestehen, über die Analyse der Beiträge der Vereine zur infrastrukturellen Daseinsvorsorge mit dem Informationsträger Gemeindeebene operationalisiert. Der Blick auf die Grenzen der Verantwortungsübernahme wird auf die kollektive Ebene – die Vereine – und damit explizit auf das Engagement im öffentlichen Raum gelenkt. Bisherige Arbeiten fokussieren auf die Individualebene (u. a. Nadler 2017; Schwarzenberg et al. 2017; Kummel und Nadler 2018; Neu-bauer-Beetz 2019; Schröder 2019).
Der gewählte theoretische Bezugsrahmen, es wird das Makro-Mikro-Makro-Modell der sozio-logischen Erklärung (Esser 1993) genutzt, verbindet die individuelle mit der kollektiven Ebene (Vereine). Einerseits können so die Forschungsergebnisse der Engagementforschung nutzbar gemacht werden, andererseits erlaubt der Bezugsrahmen die Berücksichtigung ausgewählter Rahmenbedingungen. Die zunächst quantitativ geprägte Untersuchung wird durch eine qualitative Teilstudie ergänzt. Die Auswahl der Interviewpartner, ehrenamtliche und hauptamtliche Bürgermeister sowie Amtsdirektoren von Landgemeinden, berücksichtigt den gewählten Fokus der kollektiven Ebene und das Engagement im öffentlichen Raum. Der gewählte methodische Ansatz ermöglicht einen Zugang zu bisher wenig beachteten, durch Engagement er-zeugte Güter und Leistungen in Landgemeinden. Diese jenseits der klassischen Daseinsvor-sorge liegenden Güter und Leistungen sind zwar nicht essenziell, aber doch für die Lebens-qualität wesentlich.
Wie die Analyse zeigt, kann die Beschreibung der Vereinslandschaft durch die Variablen Vereinsdichte und Handlungsfelder sinnvoll um die Variablen Diversität und Entwicklung erweitert werden. Die Vereinslandschaft des Landes Brandenburg ist heterogen. Sowohl für die Vereinsdichte als auch die Diversität, gemessen als Anzahl der Handlungsfelder nach Kategorien, können deutliche Unterschiede zwischen Städten und Landgemeinden, die im Land Branden-burg außerhalb des Berliner Umlandes liegen, nachgewiesen werden. Die Diversität der Vereinslandschaft nimmt zwischen 2012 und 2016 zu, während für die Vereinsdichte keine statistisch signifikante Veränderung zu beobachten ist. Bestätigt werden kann die Heterogenitäts-these (Weisbrod 1977, 1988), wonach die Vereinslandschaft umso differenzierter ist, je heterogener die Bevölkerung. Es zeigt sich auch, dass sich in Landgemeinden Vereinslandschaften nach Siedlungsstrukturen ausbilden, was sich durch den Lokalbezug von Engagement erklären lässt. In jedem Dorf gibt es statistisch gesehen mindestens einen Verein. Am Beispiel des Landes Brandenburg kann auch die Kompensationshypothese von Müller-Jentsch (2008) bestätigt werden. Demnach tragen Vereine in Abhängigkeit weiterer Rahmenbedingungen zur Sicherung der Daseinsvorsorge bei und füllen Lücken.
In Landgemeinden ist die Diversität der Vereinslandschaft deutlich geringer als in Städten. Es kann aber eine ausgeprägte Multifunktionalität der ansässigen Heimat-, Traditions- oder Feuerwehrvereine beobachtet werden. Die Vereine der Landgemeinden übernehmen nicht nur Aufgaben aus dem Bereich der Daseinsvorsorge, sondern auch aus verschiedenen kommunalen Produktbereichen (z. B. Herbst- und Frühjahrsputz, Mahd von Banketten gemeindeeigener Straßen, Pflege von Bushaltestellen).
Die theoriebasierte Systematisierung der Grenzen der angemahnten Verantwortungsübernahme zur Sicherung der infrastrukturellen Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen sowie – darauf aufbauend – die Systematisierung von Handlungsempfehlungen zeigen die Lücken in der politischen Rhetorik auf (Banzhaf 2017, S. 156). Zum einen bestätigen sowohl die qualitative als auch die quantitative Teilstudie eine Ressourcenabhängigkeit der Vereinslandschaft, die auch als Indikator für Soziales Kapital dienen kann. Insbesondere in jenen Gemeinden, in denen diese einen hohen Stellenwert hat, sind die Ressourcen der Forderung nachzukommen weniger vorhanden. Dies bezieht sich sowohl auf die individuellen als auch auf die kollektiven Ressourcen. Zum anderen wird deutlich, dass Eigenverantwortung, interpretiert als individuelles und vereinsgebundenes Engagement, sich auf Dauer nicht von außen initiieren lässt. Maßgeblich für die Beiträge zur Sicherung der infrastrukturellen Daseinsvorsorge sind die eigenen Bedürfnisse sowie die eigenen und zugeschriebenen Kompetenzen sowie das Maß der Selbstbestimmung.:Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Kartenverzeichnis
Abkürzungen
Kurzfassung
1 Ländliche Räume unter Druck
1.1 Mehr Engagement als Lösungsweg
1.2 Das Land Brandenburg
1.3 Sozialkapital, Vereine und Regionalentwicklung
1.4 Aufbau der Arbeit
2 Hintergrund und theoretische Grundlagen
2.1 Sicherung der Daseinsvorsorge
2.2 Daseinsvorsorge aus Bürgersicht
2.2.1 Bürger in der Doppelrolle
2.2.2 Bürger als Nutzer und Konsumenten
2.2.3 Bürger als Anbieter und Produzenten
2.2.4 Bürger als Entscheider
2.3 Der Verein – Abgrenzung, Zweck und Funktionen
2.3.1 Die Entstehung der Vereinslandschaft in Deutschland
2.3.2 Vereine – Operationalisierung eines Begriffes
2.3.3 Zwischen Selbstzweck und Gemeinwohlorientierung –Funktionen von Vereinen
2.3.4 Zwischen traditionellen Zielen und Ökonomisierung – Vereine in Deutschland
2.3.5 Ausgewählte theoretische Ansätze
2.4 Fazit – Konzeptualisierung der Fragestellung
2.4.1 Makro-Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung
2.4.2 Analytischer Bezugsrahmen
2.4.3 Rahmenbedingungen (U) – Logik der Situation
2.4.4 Handlungsmotivationen (P) – Logik der Selektion
2.4.5 Kollektives Handeln – Logik der Aggregation
2.4.6 Zusammenfassung forschungsleitender Fragenstellungen und Hypothesen
3 Grundlagen der empirischen Untersuchung
3.1 Untersuchungsdesign
3.2 Die quantitative Teilstudie
3.2.1 Vorüberlegungen
3.2.2 Sekundärstatistische Daten zur Beschreibung der Rahmenbedingungen
3.2.3 Informationen aus dem Vereinsregister
3.2.4 Datenverarbeitung und Auswertungsstrategie
3.3 Die qualitative Teilstudie
3.3.1 Konstruktion und Struktur von Experteninterviews
3.3.2 Auswahl der Interviewpartner und Erhebung
3.3.3 Auswertungsstrategie
4 Rahmenbedingungen und ihr Einfluss auf die Sicherung der Daseinsvorsorge durch Vereine
4.1 Ländliche Entwicklung und Daseinsvorsorge
4.2 Institutionelle Rahmenbedingungen – Administrativ-räumliche Aspekte
4.3 Kulturelle und natürliche Umwelt
4.4 Demografische Entwicklung
4.5 Wirtschaft
4.5.1 Konzentration auf Wachstumskerne
4.5.2 Kommunale Haushaltslage
4.6 Die Zivilgesellschaft in Brandenburg
4.7 Zusammenfassung
5 Brandenburger Vereine und ihr Beitrag zur Sicherung der Daseinsvorsorge
5.1 Reduzierung der Komplexität – Von Handlungsfeldern zu Oberkategorien
5.2 Vereinslandschaft in Brandenburg – Räumliche Verteilung und zeitliche Variationen
5.2.1 Status Quo und Entwicklungstendenzen – Kleinräumige Unterschiede
5.2.2 Städtische und ländliche Räume – Unterschiede und Gemeinsamkeiten
5.2.3 Vereinslandschaft im Land Brandenburg
5.3 Brandenburger Vereinslandschaft nach Oberkategorien
5.3.1 Oberkategorie Sport und Freizeit
5.3.2 Oberkategorie Kunst und Kultur
5.3.3 Oberkategorie Bildung
5.3.4 Oberkategorie Wohlfahrt und Gesundheit
5.3.5 Oberkategorie Verbraucherinteressen
5.3.6 Oberkategorie Brandschutz und Hilfeleistung
5.3.7 Oberkategorie Natur und Umwelt
5.3.8 Oberkategorie Interessenvertretung
5.3.9 Oberkategorien Internationale Unterstützung und Kulturaustausch
5.3.10 Oberkategorie Kirche und Religion
5.4 Überblick – Die Sicherung der infrastrukturellen Daseinsvorsorge durch Vereine
5.5 Zusammenfassung – Der Beitrag der Vereine zur Sicherung der infrastrukturellen Daseinsvorsorge in Landgemeinden
5.5.1 Vereinslandschaft in Landgemeinden
5.5.2 Multifunktionalität der Vereine in Landgemeinden – „Unsere Feuerwehren sind nicht nur da, wenn es brennt.“
5.5.3 Vereinsgründungen in Landgemeinden – „In fast jedem Dorf gibt es einen Verein.“
6 Grenzen der Verantwortungsübernahme
6.1 Zusammenhänge zwischen aktuellen Rahmenbedingungen und Vereinslandschaften
6.1.1 Zum Zusammenhang zwischen Demografie und Vereinslandschaft
6.1.2 Zum Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Vereinslandschaft
6.1.3 Zum Zusammenhang zwischen politischem Engagement und Vereinslandschaft
6.1.4 Zum Zusammenhang zwischen den institutionellen Rahmenbedingungen und der Vereinslandschaft
6.1.5 Multiple Lineare Regression – Beitrag zur Modellbildung
6.2 Übernahme von Verantwortung in Landgemeinden – „Ich habe mir mal 'ne Harke genommen ...“
6.2.1 Demografische Aspekte – „Der das jetzt macht, hat auch nicht wirklich Zeit.“
6.2.2 Motivationale Aspekte – „Und am Ende kümmert er sich immer auch um sich selbst.“
6.2.3 Kollektives Handeln – „Bei 400 Leuten kennt jeder jeden.“
6.2.4 Rahmenbedingungen – „Grenzen sind dort, wo man fürchten muss, dass zivilgesellschaftliches Handeln durch komplexe Politik unterlaufen wird.“
6.3 Zusammenfassung
7 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen
7.1 Die Vereinslandschaft im Land Brandenburg – Zusammenfassung
7.2 Handlungsempfehlungen – „Verantwortung übernehmen, heißt machen!“
7.2.1 Handlungsanreize auf lokaler Ebene – „Man kann es nicht erzwingen.“
7.2.2 Implikationen zur Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen – „Man sollte unseren Bürgern hier und da etwas mehr zutrauen ...“
7.3 Schlussbetrachtungen
7.3.3 Grenzen des Ansatzes und Übertragbarkeit der Ergebnisse
7.3.4 Ausblick
8 Quellennachweise und Verzeichnisse
8.1 Literaturverzeichnis und Datennachweise
8.2 Gesetzestexte und Urteile
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:76474 |
Date | 08 November 2021 |
Creators | Strugale, Sarah Carola |
Contributors | Müller, Bernhard, Miggelbrink, Judith, Born, Karl Martin, Technische Universität Dresden |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
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