Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Europa über vierzig Jahre lang
geteilt hat, wird vielerorts nicht nur in der Ukraine und in Deutschland ein
Zusammenwachsen des alten Kontinents erwartet und erhofft. Die Kunst
erscheint als ein probates Mittel dafür, gibt es doch von der Architektur
bis zur Musik unübersehbare historische Zusammenhänge, die sich mit den
Verschiebungen zwischen Alt- und Neueuropa entwickelt haben. Doch abgesehen
von einer kurzfristigen Aufmerksamkeit für den Begriff ‚Mitteleuropa‘
in den 1990er Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum leider kein
breiteres öffentliches oder wissenschaftliches Interesse an der Kultur des
östlichen Europa bemerkbar gemacht. Erschreckend ist vielmehr die Beobachtung,
dass alte Vorurteile allenthalben bemüht werden und den Kontakt
systematisch behindern oder gar unterbinden. Insbesondere in der Musikwissenschaft,
die sich mit der Kunst beschäftigt, die ihren gesellschaftlichen
Anspruch von der Behauptung ableitet, dass sie eine allgemeinverständliche
Sprache sei, bei der „alle Menschen Brüder“ werden, hat sich seit der
ernüchternden Bestandsaufnahme des Jahres 1992 keine Änderung abgezeichnet.
Im gesamten deutschen Musikleben ist vielmehr zu beobachten,
dass die Sympathie, die osteuropäischen Musikern in Zeiten des Kalten
Krieges entgegengebracht wurde, sich in scharfe Abgrenzung gewandelt hat.
Im Zusammenhang mit der Tagung aus dem Jahre 2006, die dieser Band
dokumentiert, ist auch ein Konzert mit dem Mitteldeutschen Rundfunk
veranstaltet worden. Die Kommentare, die von Kulturverantwortlichen im
Anschluss daran geäußert wurden, waren von einer intellektuellen Arroganz
gekennzeichnet, die an schlimmste Zeiten rassistisch motivierter Überlegenheitsphantasien
erinnerte. Die Musik ist immer noch ein Medium, bei dem
tief verankerte Vorurteile und Ängste zum Vorschein kommen, die nur zu
leicht mit blumiger ästhetischer Argumentation vernebelt werden können.
Hier wird ein Weltkrieg der Nationalkulturen fortgesetzt, wie wir ihn im 20.
Jahrhundert voll ausgebildet finden, und der sich von der Vorstellung durch
Kunst höher gebildeter Menschen zu einem sozialdarwinistisch begründeten
Herrschaftsanspruch entwickelt hat. Weite Teile deutscher Musikwissenschaft
spielen hier eine unrühmliche Vorreiterrolle, erinnert sei an Vladimir
Karbusickys treffende Kritik an Hans Heinrich Eggebrecht, die er
formulierte, lange bevor enthüllt wurde, dass Eggebrecht während des Zweiten
Weltkriegs zu einer in Kriegsverbrechen verstrickten Einheit gehörte.
Selbst vehemente Kritiker nationalsozialistischer Verflechtungen deutscher
Musikwissenschaftler wie Albrecht Riethmüller bringen für die Eigenheiten
der Musikgeschichte im östlichen Europa kein Verständnis auf. Da
wundert es kaum noch, dass Informationen über die Musikgeschichte im
östlichen Europa, speziell zu ukrainischer Musik, in deutscher (oder englischer)
Sprache Mangelware sind.
Der vorliegenden Band möchte ein Signal der Hoffnung aussenden, dass die
reiche und interessante ukrainische Musikkultur das deutsche Auditorium
beeindrucken und faszinieren möge, bildet sie doch einen wichtigen Teil
europäischer Musikkultur in Vergangenheit und Gegenwart.
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:21033 |
Date | 27 April 2018 |
Creators | Kyyanovska, Luba, Loos, Helmut, Wünsche, Stephan, Sagner, Franziska |
Contributors | Universität Leipzig |
Publisher | Gudrun Schröder |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German, English |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:book, info:eu-repo/semantics/book, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
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