In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren schätzungsweise 300000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert, mindestens 200000 allein in der DDR. Dabei erlebten sie während der Haft physische und psychische Misshandlungen bzw. Folter. Mit der Inhaftierung unmittelbar verbunden war die Trennung von der Familie inklusive der Kinder. Frühere wissenschaftliche Untersuchungen aus den 90er Jahren zeigten, dass diese potentiell traumatischen Erlebnisse in den Gefängnissen langfristige körperliche und psychische Folgen für die Betroffenen nach sich zogen. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung die aktuelle psychische und körperliche Belastung ehemals politisch Inhaftierter in der DDR zu erfassen, diese mit der Allgemeinbevölkerung zu vergleichen und potentielle Einflussfaktoren auf das Ausmaß der Belastung zu detektieren. Des Weiteren sollte die Frage untersucht werden, wie sich das psychische Wohlbefinden der Nachkommen ehemals politisch Inhaftierter in der SBZ und DDR im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung darstellt und ob es Faktoren gibt, die das Ausmaß der psychischen Belastung beeinflussen. Dabei war von besonderem Interesse, ob sich diejenigen Nachkommen, die zum Zeitpunkt der elterlichen Haft bereits geboren waren, bezüglich der psychischen Belastung von denen unterschieden, die erst später geboren wurden.
Die Datenerhebung fand jeweils querschnittlich im Rahmen zweier Forschungsprojekte an der Selbständigen Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig statt. Die ehemals politisch Inhaftierten in der DDR (Studie I; Forschungsbeginn 2007; n=157) und die Nachkommen von ehemals politischen Häftlingen in der SBZ und DDR (Studie II; Forschungsbeginn 2010; n=43) wurden mittels verschiedener standardisierter und validierter Fragebogenverfahren zu den aktuellen körperlichen Beschwerden (Studie I: GBB-24; Studie II: PHQ-15) und zum psychischen Wohlbefinden (Studie I: Depressivität und Angst [HADS], Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) [IES-R]; Studie II: Depressivität [PHQ-9], Ängstlichkeit [GAD-7], PTBS [IES-R]) sowie zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Studie I: EORTC-QLQ C30) befragt. Für den Vergleich der Stichprobendaten wurden in beiden Studien Substichproben aus bevölkerungsrepräsentativen Daten generiert. In Studie I wurden diese Vergleichsdaten alters- und geschlechtsparallelisiert, in Studie II alters-, geschlechts- und bildungs-parallelisiert.
In drei Einzelpublikationen zur den Langzeitfolgen politischer Haft für die Betroffen und in einer Publikation zu den Nachkommen der Betroffenen wurden die Ergebnisse der Untersuchungen dargestellt. Im Folgenden werden sie überblicksartig zusammengefasst:
Ergebnisse Studie I:
- Ehemals politisch Inhaftierte in der DDR berichten zum Teil noch 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung signifikant vermehrt über Symptome von Traumafolge-störungen wie Ängstlichkeit, posttraumatische Belastungssymptome und Depressionen im Vergleich zu einer alters- und geschlechtsparallelisierten Stichprobe der Allgemein-bevölkerung.
- Die gesundheitsbezogene Lebensqualität ehemals politisch Inhaftierter in der DDR ist im Vergleich zu einer alters- und geschlechtsparallelisierten Stichprobe der Allgemein-bevölkerung in allen Funktions- (körperliche, emotionale, soziale, kognitive Funktion, Rollenfunktion) und Symptombereichen (Fatigue, Übelkeit/Erbrechen, Schmerz, Kurzatmigkeit, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Verstopfung, Durchfall, finanzielle Schwierigkeiten) signifikant niedriger. Es fand sich kein durchgängiger Einfluss der haftbezogenen Merkmale auf das Ausmaß der Lebensqualität. Jedoch berichteten diejenigen Betroffenen, die mehrfach verhaftet wurden, geringere Werte auf allen Funktionsskalen der Lebensqualität als diejenigen, die „nur“ einmal verhaftet wurden.
- Bei 50 % der Betroffenen wurde auf Grundlage der Fragebogendaten eine PTBS ermittelt. Diejenigen Betroffenen, die länger als zwei Jahre inhaftiert waren, litten seltener an einer PTBS als Personen, die zwei Jahre oder kürzer inhaftiert waren. In welcher Haftära die Betroffenen in der DDR inhaftiert waren (1949-1971 vs. 1972-1989), wie alt sie bei der ersten Inhaftierung waren und ob sie nach der Haft in die Bundesrepublik Deutschland oder in die DDR entlassen wurden, hatte keinen Einfluss auf das Ergebnis. Diejenigen Betroffenen, die mehrfach verhaftet wurden, wiesen jedoch signifikant häufiger eine PTBS auf.
- Ehemals politisch Inhaftierte in der DDR berichteten signifikant mehr Körperbeschwerden (Erschöpfung, Magen-, Herzbeschwerden, Gliederschmerzen) im Vergleich zu einer alters- und geschlechtsparallelisierten Stichprobe der Allgemeinbevölkerung. Die Variable Haftdauer hatte keinen signifikanten Einfluss auf das Ausmaß der Körperbeschwerden.
Ergebnisse Studie II:
- Es gibt Hinweise darauf, dass die Gruppe der Nachkommen politisch Inhaftierter in der SBZ und DDR im Durchschnitt in den psychischen Störungsbereichen Ängstlichkeit, Depressivität und somatoforme Symptome signifikant stärker belastet ist als eine repräsentative alters-, geschlechts- und bildungsparallelisierte Stichprobe der Allgemeinbevölkerung.
- 49 % der Nachkommen ehemals inhaftierter Personen in der SBZ und DDR wiesen auf Grundlage der Fragebogendaten eine psychische Störung in den Bereichen Ängstlichkeit, Depressivität und somatoforme Störung auf. Bei 51 % wurde keine psychische Störung in den erhobenen Bereichen gefunden.
- Diejenigen Nachkommen politisch Inhaftierter, die zum Zeitpunkt der elterlichen Haft bereits geboren waren, unterschieden sich in den Bereichen Ängstlichkeit, Depressivität und Somatisierung nicht signifikant von denen, die erst nach der Haft geboren wurden.
- 88,4 % der befragten Nachkommen berichteten mindestens ein selbst erlebtes traumatisches Ereignis. 34,9 % von ihnen gaben als das schrecklichste Ereignis eines im Zusammenhang mit der politischen Inhaftierung ihrer Eltern an. 9,1 % Personen wiesen dabei auf Grundlage der Fragebogendaten eine PTBS auf.
- Diejenigen Nachkommen, bei denen beide Elternteile in politischer Haft waren, wiesen über alle Störungsbereiche hinweg tendenzielle höhere Belastungswerte auf, allerdings blieb dieser Unterschied ohne statistische Signifikanz.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine politische Inhaftierung in der DDR weitreichende Folgen für den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand eines Betroffenen haben konnte und dass diese Belastungen zum Teil noch bis heute anhalten können. Dabei ist auch die aktuelle gesundheitsbezogene Lebensqualität stark beeinträchtigt. Die Umstände der Haft scheinen nur vereinzelt einen Einfluss auf die Ausprägung der Belastungen zu haben. Für die klinische Praxis bedeuten diese Befunde, dass die historisch-biografischen Lebensumstände eines Individuums als Teil der ätiologischen Rahmenbedingungen für die Entstehung von Psychopathologie unbedingt mit betrachtet werden müssen. Für eine Gruppe von Nachkommen ehemals politisch inhaftierter Personen in der SBZ und DDR ergaben sich Hinweise auf eine erhöhte psychische Belastung in den Störungsbereichen Ängstlichkeit, Depressivität und somatoforme Symptome, unabhängig davon, ob sie zum Zeitpunkt der elterlichen Haft bereits geboren waren oder nicht.
Die Interpretation der Studienergebnisse ist vor dem Hintergrund einiger methodischer Einschränkungen vorzunehmen. Das Fehlen klinisch-strukturierter Experteninterviews, die alle psychiatrischen Störungsbereiche erfassen, geringe Fallzahlen besonders in der Untersuchung zu den Nachkommen der ehemals politisch Inhaftierten, das Querschnittsdesign und die hohe Selektivität der Stichprobe sind kritische Aspekte, die in zukünftigen Untersuchungen besonderer methodischer Aufmerksamkeit bedürfen. Um die Auswirkungen der elterlichen Haft auf die Kinder umfassender zu untersuchen, sei empfohlen, sowohl systembezogene Variablen wie Eltern-Kind-Beziehung und Bindung, innerfamiliäre Kommunikation und den elterlichen Erziehungsstil zur Aufklärung der Beziehungen auf Verhaltensebene, als auch epigenetische, neuroendokrinologische oder neurologische Parameter, die Aufschluss auf der biologischen Ebene liefern können, zu erfassen.
Die vorliegende Arbeit zu den Auswirkungen politischer Haft in der DDR und SBZ leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der jüngsten deutsch-deutschen Geschichte. Sie macht deutlich, wie stark dieses potentiell traumatische Ereignis der politischen Haft in der DDR und SBZ zum Teil auch den gegenwärtigen körperlichen und psychischen Zustand der Betroffenen und deren Nachkommen bestimmt.
Zugehörige Publikationen
1. Weißflog, G., Klinitzke, G. & Hinz, A. (2011). Gesundheitsbezogene Lebensqualität und Posttraumatische Belastungsstörungen bei in der DDR politisch Inhaftierten. Psychother Psych Med 2011; 61; 133-139
2. Weißflog, G., Böhm, M., Klinitzke, G. & Brähler, E. (2010). Erhöhte Ängstlichkeit und Depressivität als Spätfolgen bei Menschen nach politischer Inhaftierung in der DDR. Psychiat Prax 2010; 37; 297-299
3. Weißflog, G., Daig, I., Klinitzke, G. & Brähler, E. (2012). Körperbeschwerden nach politischer Inhaftierung und deren Zusammenhang mit Ängstlichkeit und Depressivität. Verhaltenstherapie 2012; 22; 37-46
4. Klinitzke, G., Böhm, M., Brähler, E. & Weißflog G. (2012). Ängstlichkeit, Depressivität, Somatisierung und Posttraumatische Belastungssymptome bei den Nachkommen ehemals politisch inhaftierter Personen in Ostdeutschland (1945-1989). Psychother Psych Med 2012; 62: 18-24
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa.de:bsz:15-qucosa-116915 |
Date | 01 July 2013 |
Creators | Klinitzke, Grit |
Contributors | Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Dr. rer. med. Gregor Weißflog, Prof. Dr. rer. biol. hum. habil. Elmar Brähler, Prof. Dr. Hubertus Himmerich, Prof. Dr. Harald. J. Freyberger |
Publisher | Universitätsbibliothek Leipzig |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | deu |
Detected Language | German |
Type | doc-type:doctoralThesis |
Format | application/pdf |
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