In der fünften Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM) wurde die Diagnose Störung mit Vermeidung und/oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme (Avoidant/Restrictive food intake disorder; ARFID)(American Psychiatric Association, 2013) eingeführt, um die Diagnose Fütterstörung im frühen Kindesalter zu ersetzen und zu erweitern. Sie ist nun nicht nur für Kinder, sondern auch für Jugendliche und Erwachsene anwendbar.(Eddy et al., 2015) ARFID ist durch Nahrungsvermeidung oder -restriktion gekennzeichnet, die zu signifikantem Nährstoffmangel, signifikantem Gewichtsverlust oder fehlender zu erwartender Gewichtszunahme, Abhängigkeit von Sondenernährung oder einer signifikanten Beeinträchtigung im psychosozialen Funktionsniveau führt.(American Psychiatric Association, 2013) Hierbei spielen Figur- oder Gewichtsorgen im Gegensatz zu anderen restriktiven Essstörungen wie Anorexia nervosa (AN) keine Rolle. Drei Erscheinungsformen können innerhalb der Diagnose ARFID sowohl kombiniert als auch einzeln auftreten: vermeidend/restriktive Nahrungsaufnahme infolge einer inadäquaten Nahrungsmenge aufgrund von Desinteresse, einer sensorischen Sensitivität oder aufgrund einer spezifischen Angst vor dem Essen oder vor Nahrungsmitteln.(Bryant-Waugh, Markham, Kreipe, & Walsh, 2010; Kurz, van Dyck, Dremmel, Munsch, & Hilbert, 2016)
Um die Diagnose ARFID zu stellen, bedarf es eines klinischen Interviews, idealerweise unter Verwendung des Eltern- und Kindberichts. Alternativ dazu können Selbstauskunftsfragebögen wie der Eating Disturbances in Youth-Questionnaire (EDY-Q),(Hilbert & van Dyck, 2016) welcher gute psychometrische Eigenschaften aufweist, die zentralen Symptome von ARFID erfassen und dabei Körperbildprobleme ausschließen.
Durch die erst kürzliche Einführung von ARFID in das Diagnosesystem existieren bisher wenige epidemiologische Studien. Vorliegende Studien konzentrieren sich hauptsächlich auf Untersuchungen in spezialisierten Essstörungszentren, bei denen retrospektiv Prävalenzen zwischen 5% und 32% bei behandlungsaufsuchenden 8- bis 18-Jährigen festgestellt werden konnten.(Fisher et al., 2014; Norris et al., 2014; Ornstein et al., 2013; Williams et al., 2015) Epidemiologische Angaben zu ARFID-Symptomen in der Allgemeinbevölkerung bewegen sich derzeit zwischen 3,2% und 5,5%.(Kurz, van Dyck, Dremmel, Munsch, & Hilbert, 2015; Schmidt, Vogel, Hiemisch, Kiess, & Hilbert, 2018) Erfasst wurden die zentralen Symptome dort mit dem EDY-Q anhand der Diagnosekriterien des DSM-5 unter Ausschluss von Figur- und Gewichtssorgen.(Schmidt et al., 2018) In Bezug auf die Verbreitung von vermeidend/restriktiven Essstörungen im pädiatrischen Umfeld ist nur eine retrospektive Studie mit Patientendaten in gastroenterologischen Kliniken zu nennen, bei der eine Prävalenz von 1,5% festgestellt wurde.(Eddy et al., 2015) Die Geschlechterverteilung bei ARFID ist im Gegensatz zu anderen Essstörungen gemäß DSM-5 ausgeglichen.(American Psychiatric Association, 2013) Untergewichtige und jüngere Kinder berichten allgemein öfter von restriktivem Essverhalten als ältere, übergewichtige und normalgewichtige Kinder.(Kurz et al., 2015; Nicely, Lane-Loney, Masciulli, Hollenbeak, & Ornstein, 2014; Schmidt et al., 2018) Außerdem weisen Patienten mit ARFID häufiger gleichzeitig auftretende körperliche Symptome sowie psychische Komorbiditäten wie Zwangsstörungen, generalisierte Angststörungen, Autismus-Spektrum-Störungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Lernstörungen und kognitive Beeinträchtigung als Patienten mit anderen Essstörungen auf.(Eddy et al., 2015; Fisher et al., 2014; Nicely et al., 2014; Norris et al., 2014; Ornstein, Essayli, Nicely, Masciulli, & Lane-Loney, 2017)
Aufgrund der unspezifischen mit ARFID assoziierten körperlichen Symptome wie Gedeihstörungen, gastroösophagealer Reflux, Obstipation, Übelkeit, Bauchschmerzen und allgemeine Entwicklungsverzögerung, die auch bei physischen Erkrankungen auftreten können, ist es naheliegend, dass restriktive Essstörungen übersehen und klinische Konsequenzen verpasst werden.(Bern & O'Brien, 2013; Cooney, Lieberman, Guimond, & Katzman, 2018; Eddy et al., 2015) Auch die hohe Komorbidität von Essstörungen mit körperlichen Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 1,(Colton et al., 2015; Jones, Lawson, Daneman, Olmsted, & Rodin, 2000; Kelly, Howe, Hendler, & Lipman, 2005; Peducci et al., 2019; Wisting, Frøisland, Skrivarhaug, Dahl-Jørgensen, & Rø, 2013; Young et al., 2013) Erkrankungen des Verdauungssystems, Autoimmunerkrankungen und Epilepsie (Leffler, Dennis, Edwards George, & Kelly, 2007; Makhzoumi et al., 2019; Santonicola et al., 2019; Tegethoff, Belardi, Stalujanis, & Meinlschmidt, 2015; Zerwas et al., 2017) erschwert die Diagnosestellung. Es ist jedoch von Bedeutung, ARFID frühzeitig zu identifizieren, um Langzeitfolgen sowie das Auftreten späterer Essstörungen und psychischer Erkrankungen zu verhindern.(Bryant-Waugh et al., 2010; Higgs, Goodyer, & Birch, 1989; Kreipe & Palomaki, 2012; Kurz et al., 2015; Watkins & Lask, 2002) Deshalb ist es wichtig, Prävalenzen und die klinische Charakteristik von ARFID insbesondere im allgemeinpädiatrischen Umfeld zu untersuchen.
Ziel dieser Querschnittsstudie war daher, Symptome von ARFID und deren Assoziationen mit Essstörungs- und genereller Psychopathologie, Lebensqualität, anthropometrischen Daten und medizinischen Komorbiditäten zu beschreiben. Dafür füllten N = 111 Kinder zwischen 8 und 18 Jahren, die auf der Kinderstation der Universitätsklinik Leipzig vorstellig wurden, den Eating Disturbances in Youth-Questionnaire (EDY-Q)(Hilbert & van Dyck, 2016) aus, um die zentralen ARFID-Symptome zu erfassen. Daneben wurden etablierte Fragebögen zur Essstörungspsychopathologie (Eating Disorder Examination-Questionnaire for Children 8,(Kliem et al., 2017) Eating Disorder Inventory for Children (Eklund, Paavonen, & Almqvist, 2005)), der Lebensqualität (KINDL-R-Fragebogen)(Bullinger, 1994) und der körperlichen Symptome (Health Behavior in School-aged Children Symptom Checklist)(Ravens-Sieberer et al., 2008) ausgegeben. Das Alter, Geschlecht, objektiv gemessene Größe und Gewicht, BMI, routinemäßig vorgenommene Blutuntersuchungen, psychosoziale Anamnese, Beschwerden bei der Aufnahme sowie Diagnosen wurden aus den medizinischen Aufzeichnungen entnommen. So konnten aus den Informationen aus medizinischen Daten und Fragebögen die diagnostischen Kriterien des DSM-5 für ARFID durch zwei Rater überprüft werden. Für eine Kategorisierung als Patient mit ARFID-Symptomen mussten die Ergebnisse beider Rater übereinstimmen. Zusätzlich wurden die Daten mit einer populationsbasierten Stichprobe bestehend aus N = 799 Kindern der Leipziger Allgemeinbevölkerung verglichen.(Schmidt et al., 2018)
Mit einer Prävalenz von 7,2 % (n = 8) wurden ARFID-Symptome relativ häufig unter Kindern und Jugendlichen auf der allgemeinpädiatrischen Station der Universitätsklinik Leipzig dokumentiert. Signifikant häufiger zeigten sich Symptome der restriktiven Essstörung bei Kindern und Jugendlichen mit Untergewicht im Vergleich zu denen mit Normal- oder Übergewicht, jedoch ohne signifikante Assoziationen von Alter und Geschlecht. Während keine signifikanten Unterschiede in der Verteilung von ARFID-Symptomen bei körperlichen Erkrankungen festgestellt werden konnten, zeigte sich lediglich ein Trend von höherer Prävalenz von etwa 10,5 % bei Kindern und Jugendlichen mit gastrointestinalen Erkrankungen als bei denen mit anderen Erkrankungen. Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung ergaben sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich der ARFID-Symptom-Prävalenz. Es zeigte sich lediglich eine signifikant höhere Prävalenz von ARFID-Symptomen bei gleichzeitigem Untergewicht bei Kindern der allgemeinpädiatrischen Station im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (4.5% versus 1.4%). Insgesamt berichteten Kinder und Jugendliche mit ARFID-Symptomen signifikant häufiger über Untergewichtsprobleme, den Wunsch mehr zu wiegen sowie selektives Essen als Kinder und Jugendliche ohne ARFID-Symptome.
Zu den Stärken der Studie zählen die Untersuchung eines Samples außerhalb von Essstörungszentren, die Nutzung etablierter Selbstauskunftsfragebögen, die objektive Messung der anthropometrischen Daten und die umfassende Untersuchung der medizinischen Daten nach den DSM-5 Kriterien für ARFID. Unter den Einschränkungen ist vor allem die geringe Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die ARFID-Symptome aufwiesen, zu nennen. Eine tatsächliche ARFID-Diagnosestellung war aufgrund der Verwendung der Selbstauskunft der Kinder und Jugendlichen nicht möglich. Zudem erlaubt das Design der Querschnittsstudie nur eine aktuelle Momentaufnahme der ARFID-Symptome und kann weder die Entwicklung noch die Folgen der Erkrankung abbilden.
Zusammenfassend zeigt die Häufigkeit von ARFID-Symptomen bei Kindern und Jugendlichen in der Allgemeinpädiatrie die Notwendigkeit, Essstörungen immer auch bei körperlichen Beschwerden als mögliche Differentialdiagnose in Betracht zu ziehen. Daher wird weitere Forschung benötigt, um existierende Diagnostik und Behandlungsoptionen nicht nur in der Allgemeinpädiatrie sondern auch in spezialisierten Essstörungszentren zu verbessern.:INHALTSVERZEICHNIS
1. EINFÜHRUNG 3
1.1. Theoretischer Hintergrund 3
1.1.1 Beschreibung und Klassifikation 4
1.1.2 Komorbiditäten 5
1.1.3 Epidemiologie 6
1.1.4 Ätiologie 8
1.1.5 Diagnosestellung 9
1.1.6 Therapie 11
1.2 Rationale der Studie 12
1.2.1 Ziele 12
1.2.2 Hypothesen 13
2 PUBLIKATION 14
3 ZUSAMMENFASSUNG DER ARBEIT 28
4 LITERATURVERZEICHNIS 33
5 DARSTELLUNG DES EIGENEN BEITRAGS 41
6 ERKLÄRUNG ÜBER DIE EIGENSTÄNDIGE ABFASSUNG DER ARBEIT 42
7 LEBENSLAUF 43
8 DANKSAGUNG 44
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:78565 |
Date | 23 March 2022 |
Creators | Schöffel, Hannah |
Contributors | Universität Leipzig |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
Relation | 10.1002/erv.2799 |
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