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Die marxistisch-leninistische sorbische Geschichtswissenschaft von 1945-1990.

Zweifelsohne beschreibt der Zeitraum vom Kriegsende 1945 bis zur politischen Wende 1989/90 eine außerordentlich bedeutende Epoche in der sorbischen Historiographiegeschichte (sowie der Disziplingeschichte der Sorabistik insgesamt). In kürzester Zeit hatte sich diese einst überwiegend von der Arbeit interessierter, aber auf dem Feld der Geschichtswissenschaft kaum gebildeter Laien getragene Nischenwissenschaft zu einem seriösen und international anerkannten Zweig der Slawistik entwickelt. Die Institutionalisierung der Sorabistik, verwirklicht durch die Gründung des Institutes für sorbische Volksforschung in Bautzen und des Sorbischen Institutes an der Karl-Marx-Universität Leipzig, gewährleistete die Durchsetzung zeitgemäßer wissenschaftlicher Standards bei der Erforschung von Sprache, Kultur und Geschichte dieses slawischen Volkes am Südostrand der DDR und erhob die beiden sächsischen Städte zu international führenden Zentren auf diesem Gebiet. Die hohe Publikationsdichte hochwertiger Sach- und Fachliteratur über die Sorben eröffnete einen breiten Rezipientenkreis über die Grenzen der Republik hinaus. Ohne die gesetzlich garantierte Kulturentfaltung der Sorben und ihre staatliche Förderung im Rahmen der DDR Nationalitätenpolitik wäre eine derart rasante Entwicklung innerhalb weniger Jahrzehnte wohl kaum möglich gewesen.
Andererseits war der Preis dieses Fortschritts die ideologische Vereinnahmung der sorbischen Geschichtsschreibung durch den Marxismus-Leninismus. Das politische System des Arbeiter und- Bauern-Staates legitimierte sich durch den als historisch-gesetzmäßig aufgefassten Prozess der teleologischen Gesellschaftsentwicklung zum Kommunismus unter Leitung einer sozialistischen/kommunistischen 'Partei neuen Typs'. Die marxistisch-leninistische Ideologie war somit zugleich Existenzgrundlage des SED-Staates sowie Leitfaden seiner Politik – Zweifel am historischen Paradigma würden das gesamte System infrage stellen. Die Geschichte sollte Beleg des Entwicklungsprozesses zum gesellschaftlichen Fortschritt unter sozialistischen Bedingungen sein, die Geschichtswissenschaft hatte dafür den Beweis zu erbringen und gegensätzliche Darstellungen zu widerlegen. Konkret führte dies zu einer Kontrolle der historischen Forschung durch staatliche Instanzen: Die Politik gab den Rahmen des Geschichtsbildes vor und griff im Zweifelsfall 'korrigierend' ein. Der totale Geltungs- und Gestaltungsanspruch der SED in der Gegenwart dehnte sich also gewissermaßen auch in die Vergangenheit aus. Die Folge war – insbesondere auf dem Gebiet der Zeitgeschichte – eine häufig parteiisch verzerrte Geschichtsdarstellung. Darüber hinaus führte die verbindliche und alternativlose Adaption des Marxismus-Leninismus als Grundlage jeglicher wissenschaftlicher Arbeit zu einer theoretischen und methodologischen Engführung, die nach einem anfänglichen Innovationsschub bald zur Reformunfähigkeit verknöcherte und potentielle belebende Impulse im Keim erstickte.
Als mit dem Ende des SED-Staates das gesamte ideologische Konstrukt des Marxismus-Leninismus zusammenstürzte, erlitt analog die daraus hervorgegangene Geschichtsschreibung einen massiven Verlust an Glaubwürdigkeit und Bedeutung. Während die deutsche Mehrheitsbevölkerung der neuen Bundesländer durch die Übernahme des bundesrepublikanischen Geschichtsbild die Verwerfungen weitgehend abfedern konnte, bestand diese Option für die Sorben nicht: Der überwältigende Großteil des gesamten wissenschaftlich fundierten sorbischen Geschichtsbildes speiste sich aus 40 Jahren alternativlos marxistischleninistischer Geschichtsforschung. Der plötzliche Paradigmen-wechsel hinterließ für die Sorben einen – im doppelten Sinne – historischen Scherbenhaufen.
Nach der Wende stellte sich daher die Frage, wie mit dem Erbe sorbischer marxistischleninistischer Geschichtswissenschaft umzugehen sei. Auf der einen Seite konnte man ihre Erkenntnisse in Anbetracht ideologischer Verzerrungen nicht einfach unkritisch übernehmen, andererseits konnten sie mangels Alternativen auch nicht einfach ignoriert und ein neues, zeitgemäßes Geschichtsbild der Sorben sozusagen 'aus dem Nichts' erschaffen werden. Während die systematische Aufarbeitung und Neubewertung der allgemeinen 'deutschen' DDR-Geschichtsforschung in den letzten Jahrzehnten intensives Betätigungsfeld der gesamtdeutschen Historikerschaft war, ist ein vergleichbarer Prozess in der sorbischen Geschichtswissenschaft nur anfänglich in den frühen 90er Jahren zu beobachten gewesen. Stattdessen wurde schon bald der Schwerpunkt auf die Evaluation (und gegebenenfalls Korrektur) konkreter Geschichtsinhalte – insbesondere den Zeitabschnitt von 1945 bis 1990 betreffend – sowie auf die Erforschung bisheriger Geschichtslücken gelegt. 27 Jahre nach der politischen Wende bleiben daher nach wie vor viele Fragen nicht abschließend geklärt. Die in jüngster Zeit intensiver geführte Debatte über die sorbische Identität und die damit zusammenhängende bewusstere Auseinandersetzung mit der Identifikationswirkung von Geschichte und ihrem Potential für die Selbstvergewisserung des sorbischen Ethnikums – namentlich seien die Arbeiten Měrćin Wałdas oder der aktuelle Forschungsbereich „Konstellationen sorbischer Identität“ des Sorbischen Instituts genannt – führen die Dringlichkeit einer solchen Aufarbeitung der sorbischen Historiographie wieder deutlich vor Augen.

Identiferoai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:89801
Date20 February 2024
CreatorsPolk, Alexander
ContributorsSchmeitzner, Mike, Pech, Edmund, Technische Universität Dresden
Source SetsHochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden
LanguageGerman
Detected LanguageGerman
Typeinfo:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:masterThesis, info:eu-repo/semantics/masterThesis, doc-type:Text
Rightsinfo:eu-repo/semantics/openAccess

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