Die Informationsverarbeitung im Nervensystem basiert auf der Signalübertragung an chemischen Synapsen. Um diese bei hochfrequenter Aktivität aufrecht erhalten zu können, ist das Nachfüllen von Neurotransmitter-gefüllten Vesikeln an die präsynaptische Membran von zentraler Bedeutung. Die glutamatergen Parallelfaser-Purkinjezelle-Synapsen (PF-PC-Synapsen) des Zerebellums weisen eine ausgeprägte und anhaltende Kurzzeitbahnung für bis zu 30 Aktionspotentiale (APs) bei hochfrequenter Aktivität auf, obwohl anfänglich nur eine vergleichsweise geringe Anzahl synaptischer Vesikel (~ 3) an der aktiven Zone gedockt ist. Dies wird durch ultra-schnelles Nachfüllen (Recruitment) im Millisekundenbereich ermöglicht, welches sogar zu einer Vergrößerung des Pools gedockter und freisetzungsbereiter Vesikel (Readily releasable pool, RRP) führt (Overfilling, Überfüllen). Es gibt Evidenz dafür, dass dieser Prozess mindestens teilweise Kalzium(Ca2+)-abhängig ist. Durch welche Kanäle das hierfür bereitgestellte Ca2+ in die Präsynapse gelangt, war bislang unklar.
An PF-PC-Synapsen sind drei Subtypen spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle (Cavs) vorhanden: Cav2.1 (P/Q Typ), Cav2.2 (N Typ) und Cav2.3 (R Typ). Diese stellen in jungen Mäusen (P8-10) gemeinsam das Ca2+ für die Freisetzung der Transmitter-Vesikel zur Verfügung. Während der Entwicklung verringert sich die Kopplungsdistanz zwischen Cav2.1-Kanälen und Ca2+-Sensor, sodass bei reiferen Tieren (P21–24) allein der Ca2+-Einstrom durch eng gekoppelte Cav2.1 zur Vesikelfreisetzung führt. Cav2.2 und Cav2.3 sind jedoch weiterhin an der Präsynapse vorhanden und tragen zum Aktionspotential(AP)-vermittelten Ca2+-Einstrom bei. Die Funktion dieser Kanäle in reiferen Tieren blieb bisher weitgehend ungeklärt. Vorliegend wurden folgende Hypothesen überprüft:
1. Ca2+-Einstrom durch Cav2.2 oder Cav2.3 ist für spontane, nicht AP-vermittelte Vesikelfreisetzung verantwortlich.
2. Ca2+-Einstrom durch Cav2.2 oder Cav2.3 stellt Ca2+ für ultra-schnelles Nachfüllen mit Überfüllen bereit.
Um diese Hypothesen zu prüfen, wurden Whole-Cell Patch-Clamp Messungen an Purkinjezellen in akuten Hirnschnitten reifer (P21–24) C57BL/6 Mäuse durchgeführt und die Parallelfasern (PFs) extrazellulär in der Molekularschicht stimuliert.
Zunächst wurde die Hypothese geprüft, ob Cav2.2 und Cav2.3 an der Ca2+-Bereitstellung für spontane Vesikelfreisetzung beteiligt sind. Dazu wurden sogenannte miniature excitatory postsynaptic currents (Miniatur-EPSCs, mEPSCs) der Purkinjezellen aufgezeichnet. Bei Erhöhung der extrazellulären Ca2+-Konzentration von 2 mM auf 5 mM zeigte sich eine deutliche Steigerung der mEPSC-Frequenz, was die Annahme stützt, dass die spontane Vesikelfreisetzung eine Ca2+-abhängige Komponente hat.
Um Rückschlüsse auf die Beteiligung der Cav-Subtypen ziehen zu können, wurden Cav2 Subtyp-spezifische Toxinblocker eingesetzt. Ω-Agatoxin-IVA wurde zur Blockierung von Cav2.1 eingesetzt. Cav2.2 wurde mit Ω-Conotoxin GVIA und Cav2.3 mit SNX-482 blockiert. Unter dem Einfluss dieser Toxine konnte weder einzeln noch in Kombination ein Effekt auf die Frequenz der mEPSCs beobachtet werden. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die Funktion dieser Cav2s nicht die Ca2+-Bereitstellung für spontane Vesikelfreisetzung ist.
Anschließend wurde der Einfluss der Blockade der Cav2 Subtypen auf das Vesikel-Nachfüllen untersucht. Dazu wurden Parallelfasern zunächst fünf Mal bei einer Frequenz von 20 Hz extrazellulär stimuliert und die hervorgerufenen EPSCs aufgezeichnet. Hieraus wurde das Verhältnis aus den Amplituden des zweiten bis fünften EPSCs zur Amplitude des ersten EPSCs berechnet (Ai/A1). Diese Paarpulsverhältnisse sollten sich bei einem durch Cav2-Blocker beeinträchtigtem Vesikel-Nachfüllen verkleinern. Ein solcher Effekt war jedoch bei dieser kurzen Aktivierung mit 5 Stimuli nicht zu beobachten.
Da die in-vivo-Aktivität an der PF-PC-Synapse aus längeren, hochfrequenten Trains besteht und sie in der Lage ist, auch bei länger anhaltender Stimulation zu bahnen, wurde ein weiteres Experiment mit Trains aus 50 Stimuli durchgeführt. Hierbei sollte während oder zumindest gegen Ende des Trains ein Gleichgewicht aus Freisetzung und Nachfüllen (Steady State) erreicht werden. Dazu war es erforderlich, die extrazelluläre Ca2+-Konzentration auf 6 mM zu erhöhen. Die aufgezeichneten EPSC-Amplituden wurden in einem kumulativen Plot aufgetragen und mit einer Methode nach Schneggenburger et al. ausgewertet. Dabei wird der Gleichgewichtsbereich mit einer linearen Funktion gefittet, deren Anstieg ein Maß für die Nachladerate und deren y-Achsenabschnitt ein Maß für das Dekrement des RRP ist. Durch spezifische Blockade einzelner Cav-Subtypen kann man Aussagen über deren Einfluss auf Vesikel-Nachfüllen und RRP treffen. Unter Hinzugabe von Ω Agatoxin IVA konnte, wie erwartet, eine starke Reduktion bereits bei der ersten EPSC-Amplitude beobachtet werden, da der Ca2+-Einstrom durch Cav2.1 entscheidend für die Freisetzungswahrscheinlichkeit der Vesikel (pv) ist. Hierdurch erklärt sich die beobachtete Abnahme des RRP-Dekrements.
Der Anstieg der Geraden im Gleichgewichtszustand zeigte sich durch Ω-Agatoxin-IVA nicht signifikant verändert. Allerdings könnte ein möglicher Effekt durch die starke Reduktion der pv maskiert sein. Daher wurde in einem weiteren Versuch eine reduzierte Dosis (100 nM statt 250 nM) Ω Agatoxin-IVA eingesetzt. Hier zeigte sich neben dem Effekt auf das RRP-Dekrement außerdem ein vermindertes Nachfüllen der Vesikel. Dieser Effekt wurde bei voller Dosis vermutlich maskiert und weist darauf hin, dass Ca2+-Einstrom durch Cav2.1 zur Aufrechterhaltung des Vesikel-Nachfüllens beiträgt.
Bei Blockade von Cav2.3 mit SNX-482 konnte kein signifikanter Einfluss auf Vesikel-Nachfüllen oder RRP festgestellt werden.
Unter dem Einfluss des Cav2.2-Blockers Ω-Conotoxin GVIA zeigte sich ein interessanter Effekt: Die Nachladerate wurde durch die Toxinapplikation selektiv reduziert. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass die Bereitstellung von Ca2+ für das Vesikel-Nachfüllen eine Funktion des Cav2.2 an dieser Synapse darstellt. Das RRP-Dekrement blieb davon unbeeinflusst, was zu dem beschriebenen Befund passt, nach dem Cav2.2s in diesem Alter nicht an der Vesikelfreisetzung beteiligt sind.
Unter Cav2.1-Block dagegen, blieben die EPSC-Amplituden am Ende verhältnismäßig unbeeinflusst, während die ersten stark reduziert waren. Dieser Befund passt zu der Annahme, dass Ω-Agatoxin-IVA pv stark verringert, während das Nachfüllen über den erhaltenen Ca2+-Einstrom durch Cav2.2 weiterläuft. Anhand unserer Daten ist allerdings nicht auszuschließen, dass ein Unterschied zwischen früh und spät im Train rekrutierten Vesikeln hinsichtlich deren Kopplung an Cav2.1 oder Cav2.2 besteht.
Im Anschluss an die Trains mit 50 Stimuli wurde eine Erholungsphase aufgezeichnet. Hierbei wurde mit konsekutiv steigenden Interstimulus-Intervallen die Regeneration der EPSC-Amplituden bis etwa auf das Ausgangsniveau aufgezeichnet. Der Zeitverlauf der Erholung wurde mittels biexponentieller Funktionen gefittet. Bei der Applikation von Ω Agatoxin-IVA zeigte sich der Gleichgewichtszustand ohne Depression, während er unter Ω Conotoxin GVIA und SNX-482 eine deutliche Depression aufwies. Ω-Agatoxin-IVA führte zu einer signifikant beschleunigten Erholung. Dieser Effekt resultiert aber am ehesten aus der starken Reduktion von pv und der fehlenden Depression.
Sowohl der Zeitverlauf der Erholung als auch die EPSC-Amplituden während der kurzen Aktivierung mit 5 Stimuli waren unbeeinflusst von Cav2.2- und Cav2.3-Block. Gemeinsam spricht dies für das Vorhandensein eines basalen Nachfüllens, welches zusätzlich zum Ca2+-abhängigen Nachfüllen mit Einstrom durch Cav2.1 und Cav2.2 stattfindet.
Das Ziel der Studie bestand darin, die Funktion der Cav2.2- und Cav2.3-Kanäle im präsynaptischen Bouton der reifen Parallelfaser zu erforschen. Obwohl spontane Vesikelfreisetzung zumindest teilweise Ca2+-abhängig zu sein scheint, war keiner der untersuchten Cav2-Kanäle bedeutsam beteiligt. Bei Cav2.3 konnte des Weiteren keine Relevanz für das Nachfüllen festgestellt werden. Für Cav2.2-Kanäle konnte jedoch die Funktion als Ca2+-Bereitsteller für das Nachfüllen bei anhaltender synaptischer Transmission identifiziert werden.
Zusammenfassend bestätigen unsere Daten den maßgeblichen Einfluss von Cav2.1 auf pv und zeigen eine wichtige Funktion von Cav2.2: die Erhaltung der synaptischen Effektivität unter anhaltender, hochfrequenter Aktivität an der Parallelfaser. Es bleibt die Frage offen, inwiefern diese Befunde auch für andere kleine glutamaterge Synapsen, beispielsweise im Neocortex, zutreffen. Auch dort konnte der entwicklungsbedingte Wechsel von gemeinsamer Steuerung der Vesikelfreisetzung durch Cav2.1 und Cav2.2 zu alleiniger Steuerung durch Cav2.1 beobachtet werden. Gleichzeitig bleibt auch hier die Ca2+-Signalgebung durch Cav2.2 erhalten.:Einleitung 1
Aufbau und Funktion chemischer Synapsen 1
Kurzzeitbahnung und Vesikel-Nachfüllen 2
Parallelfaser-Purkinjezelle-Synapse als Modellsystem 4
Experimenteller Aufbau und Auswertungsmethoden 7
Publikation 9
Zusammenfassung 24
Literaturverzeichnis 28
Darstellung des eigenen Beitrags 31
Erklärung über die eigenständige Abfassung der Arbeit 32
Lebenslauf 33
Danksagung 34
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:93625 |
Date | 09 September 2024 |
Creators | Wender, Magdalena |
Contributors | Schmidt, Hartmut, Bornschein, Grit, Brachtendorf, Simone, Hirrlinger, Johannes, Stassart, Ruth, Universität Leipzig |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German, English |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
Relation | 10.1523/JNEUROSCI.1279-22.2023 |
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