Die vorliegende Arbeit widmet sich der Repräsentation und Verarbeitung arithmetischer Fakten. Dieser Bereich semantischen Wissens eignet sich unter anderem deshalb besonders gut als Forschungsgegenstand, weil nicht nur seine einzelne Bestandteile, sondern auch die Beziehungen dieser Bestandteile untereinander außergewöhnlich gut definierbar sind. Kognitive Modelle können also mit einem Grad an Präzision entwickelt werden, der in anderen Bereichen kaum je zu erreichen sein wird. Die meisten aktuellen Modelle stimmen darin überein, die Repräsentation arithmetischer Fakten als eine assoziative, netzwerkartig organisierte Struktur im deklarativen Gedächtnis zu beschreiben. Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung bleibt eine Reihe von Fragen offen. In den hier vorgestellten Untersuchungen werden solche offene Fragen in Hinsicht auf drei verschiedene Themenbereiche angegangen:
1) die neuroanatomischen Korrelate 2) Nachbarschaftskonsistenzeffekte bei der verbalen Produktion sowie 3) die automatische Aktivierung arithmetischer Fakten.
In einer kombinierten fMRT- und Verhaltensstudie wurde beispielsweise der Frage nachgegangen, welche neurofunktionalen Entsprechungen es für den Erwerb arithmetischer Fakten bei Erwachsenen gibt. Den Ausgangspunkt für diese Untersuchung bildete das Triple-Code-Modell von Dehaene und Cohen, da es als einziges auch Aussagen über neuroanatomische Korrelate numerischer Leistungen macht. Das Triple-Code-Modell geht davon aus, dass zum Abruf arithmetischer Fakten eine „perisylvische“ Region der linken Hemisphäre unter Einbeziehung der Stammganglien sowie des Gyrus angularis nötig ist (Dehaene & Cohen, 1995; Dehaene & Cohen, 1997; Dehaene, Piazza, Pinel, & Cohen, 2003). In der aktuellen Studie sollten gesunde Erwachsene komplexe Multiplikationsaufgaben etwa eine Woche lang intensiv üben, so dass ihre Beantwortung immer mehr automatisiert erfolgt. Die Lösung dieser geübten Aufgaben sollte somit – im Gegensatz zu vergleichbaren ungeübten Aufgaben – immer stärker auf Faktenabruf als auf der Anwendung von Prozeduren und Strategien beruhen. Hingegen sollten ungeübte Aufgaben im Vergleich zu geübten höhere Anforderungen an exekutive Funktionen einschließlich des Arbeitsgedächtnisses stellen. Nach dem Training konnten die Teilnehmer – wie erwartet – geübte Aufgaben deutlich schneller und sicherer beantworten als ungeübte. Zusätzlich wurden sie auch im Magnetresonanztomografen untersucht. Dabei konnte zunächst bestätigt werden, dass das Lösen von Multiplikationsaufgaben allgemein von einem vorwiegend linkshemisphärischen Netzwerk frontaler und parietaler Areale unterstützt wird. Das wohl wichtigste Ergebnis ist jedoch eine Verschiebung der Hirnaktivierungen von eher frontalen Aktivierungsmustern zu einer eher parietalen Aktivierung und innerhalb des Parietallappens vom Sulcus intraparietalis zum Gyrus angularis bei den geübten im Vergleich zu den ungeübten Aufgaben. So wurde die zentrale Bedeutung von Arbeitsgedächtnis- und Planungsleistungen für komplexe ungeübte Rechenaufgaben erneut herausgestellt. Im Sinne des Triple-Code-Modells könnte die Verschiebung innerhalb des Parietallappens auf einen Wechsel von quantitätsbasierten Rechenleistungen (Sulcus intraparietalis) zu automatisiertem Faktenabruf (linker Gyrus angularis) hindeuten.
Gibt es bei der verbalen Produktion arithmetischer Fakten Nachbarschaftskonsistenzeffekte ähnlich zu denen, wie sie auch in der Sprachverarbeitung beschrieben werden? Solche Effekte sind nach dem aktuellen „Dreiecksmodell“ von Verguts & Fias (2004) zur Repräsentation von Multiplikationsfakten erwartbar. Demzufolge sollten richtige Antworten leichter gegeben werden können, wenn sie Ziffern mit möglichst vielen semantisch nahen falschen Antworten gemeinsam haben. Möglicherweise sollten demnach aber auch falsche Antworten dann mit größerer Wahrscheinlichkeit produziert werden, wenn sie eine Ziffer mit der richtigen Antwort teilen. Nach dem Dreiecksmodell wäre darüber hinaus sogar der klassische Aufgabengrößeneffekt bei einfachen Multiplikationsaufgaben (Zbrodoff & Logan, 2004) auf die Konsistenzverhältnisse der richtigen Antwort mit semantisch benachbarten falschen Antworten zurückzuführen. In einer Reanalyse der Fehlerdaten von gesunden Probanden (Campbell, 1997) und einem Patienten (Domahs, Bartha, & Delazer, 2003) wurden tatsächlich Belege für das Vorhandensein von Zehnerkonsistenzeffekten beim Lösen einfacher Multiplikationsaufgaben gefunden. Die Versuchspersonen bzw. der Patient hatten solche falschen Antworten signifikant häufiger produziert, welche die gleiche Zehnerziffer wie das richtigen Ergebnisses aufwiesen, als ansonsten vergleichbare andere Fehler. Damit wird die Annahme unterstützt, dass die Zehner- und die Einerziffern zweistelliger Zahlen separate Repräsentationen aufweisen – bei der Multiplikation (Verguts & Fias, 2004) wie auch allgemein bei numerischer Verarbeitung (Nuerk, Weger, & Willmes, 2001; Nuerk & Willmes, 2005). Zusätzlich dazu wurde in einer Regressionsanalyse über die Fehlerzahlen auch erstmalig empirische Evidenz für die Hypothese vorgelegt, dass der klassische Aufgabengrößeneffekt beim Abruf von Multiplikationsfakten auf Zehnerkonsistenzeffekte zurückführbar ist: Obwohl die Aufgabengröße als erster Prädiktor in das Modell einging, wurde diese Variable wieder verworfen, sobald ein Maß für die Nachbarschaftskonsistenz der richtigen Antwort in das Modell aufgenommen wurde.
Schließlich wurde in einer weiteren Studie die automatische Aktivierung von Multiplikationsfakten bei gesunden Probanden mit einer Zahlenidentifikationsaufgabe (Galfano, Rusconi, & Umilta, 2003; Lefevre, Bisanz, & Mrkonjic, 1988; Thibodeau, Lefevre, & Bisanz, 1996) untersucht. Dabei sollte erstmals die Frage beantwortet werden, wie sich die automatische Aktivierung der eigentlichen Multiplikationsergebnisse (Thibodeau et al., 1996) zur Aktivierung benachbarter falscher Antworten (Galfano et al., 2003) verhält. Ferner sollte durch die Präsentation mit verschiedenen SOAs der zeitliche Verlauf dieser Aktivierungen aufgeklärt werden. Die Ergebnisse dieser Studie können insgesamt als Evidenz für das Vorhandensein und die automatische, obligatorische Aktivierung eines Netzwerkes arithmetischer Fakten bei gesunden, gebildeten Erwachsenen gewertet werden, in dem die richtigen Produkte stärker mit den Faktoren assoziiert sind als benachbarte Produkte (Operandenfehler). Dabei führen Produkte kleiner Aufgaben zu einer stärkeren Interferenz als Produkte großer Aufgaben und Operandenfehler großer Aufgaben zu einer stärkeren Interferenz als Operandenfehler kleiner Aufgaben. Ein solches Aktivierungsmuster passt gut zu den Vorhersagen des Assoziationsverteilungsmodells von Siegler (Lemaire & Siegler, 1995; Siegler, 1988), bei dem kleine Aufgaben eine schmalgipflige Verteilung der Assoziationen um das richtige Ergebnis herum aufweisen, große Aufgaben jedoch eine breitgipflige Verteilung.
Somit sollte die vorliegende Arbeit etwas mehr Licht in bislang weitgehend vernachlässigte Aspekte der Repräsentation und des Abrufs arithmetischer Fakten gebracht haben: Die neuronalen Korrelate ihres Erwerbs, die Konsequenzen ihrer Einbindung in das Stellenwertsystem mit der Basis 10 sowie die spezifischen Auswirkungen ihrer assoziativen semantischen Repräsentation auf ihre automatische Aktivierbarkeit.
Literatur
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In a combined behavioural and fMRI study the neurofunctional correlates of the acquisition of arithmetic facts in adults were examined. This research was based on the Triple-Code-Model of Dehaene and Cohen, the only recent model which makes explicit assumptions on neuroanatomical correlates of numerical abilities. The Triple-Code-Model assumes that a “perisylvian” region in the left hemisphere including the basal ganglia and the Angular Gyrus is involved in the retrieval of arithmetic facts (Dehaene & Cohen, 1995; Dehaene & Cohen, 1997; Dehaene, Piazza, Pinel, & Cohen, 2003). In the present study healthy adults were asked to train complex multiplication problems extensively during one week. Thus, these problems could be solved more and more automatically. It was reasoned that answering these trained problems should more and more rely on the retrieval of facts from declarative memory, whereas answering untrained problems should rely on the application of strategies and procedures, which impose high demands on executive functions including working memory. After the training was finished, participants – as expected – could solve trained problems faster and more accurately than non-trained problems. Participants were also submitted to a functional magnetic resonance imaging examination. In general, this examination added to the evidence for a mainly left hemispheric fronto-parietal network being involved in mental multiplication. Crucially, comparing trained with non-trained problems a shift of activation from frontal to more parietal regions was observed. Thus, the central role of central executive and working memory for complex calculation was highlighted. Moreover, a shift of activation from the Intraparietal Sulcus to the Angular Gyrus took place within the parietal lobe. According to the Triple-Code-Model, this shift may be interpreted to indicate a strategy change from quantity based calculation, relying on the Intraparietal Sulcus, to fact retrieval, relying on the left Angular Gyrus.
Are there neighbourhood consistency effects in the verbal production of arithmetic facts similar to what has been described for language production? According to the “Triangle Model” of simple multiplication, proposed by Verguts & Fias (2004), such effects can be expected. According to this model corrects answers can be given more easily if they share digits with many semantically close wrong answers. Moreover, it can be assumed that wrong answers, too, are more likely to be produced if they share a digit with the correct result. In addition to this, the Triangle Model also states that the classical problem size effect in simple multiplication (Zbrodoff & Logan, 2004) can be drawn back to neighbourhood consistency between the correct result and semantically close wrong answers. In fact, a re-analysis of error data from a sample of healthy young adults (Campbell, 1997) and a patient with acalculia (Domahs, Bartha, & Delazer, 2003) provided evidence for the existence of decade consistency effects in the verbal production of multiplication results. Healthy participants and the patient produced significantly more wrong answers which shared the decade digit with the correct result than otherwise comparable wrong answers. This result supports the assumption of separate representations of decade and unit digits in two-digit numbers in multiplication (Verguts & Fias, 2004) and in number processing in general (Nuerk, Weger, & Willmes, 2001; Nuerk & Willmes, 2005). Moreover, an additional regression analysis on the error rates provided first empirical evidence for the hypothesis that the classical problem size effect in the retrieval of multiplication facts may be an artefact of neighbourhood consistency: Although problem size was the first variable to enter the model, it was excluded from the model once a measure for neighbourhood consistency was included.
Finally, in a further study the automatic activation of multiplication facts was examined in a number matching task (Galfano, Rusconi, & Umilta, 2003; Lefevre, Bisanz, & Mrkonjic, 1988; Thibodeau, Lefevre, & Bisanz, 1996). This experiment addressed the question how the automatic activation of actual multiplication results (Thibodeau et al., 1996) relates to the activation of semantically close wrong answers (Galfano et al., 2003). Furthermore, using different SOAs the temporal properties of these activations should be disclosed. In general, the results of this study provide evidence for an obligatory and automatic activation of a network of arithmetic facts in healthy educated adults in which correct results are stronger associated with the operands than semantically related wrong answers. Crucially, products of small problems lead to stronger interference effects than products of larger problems while operand errors of large problems lead to stronger interference effects than operand errors of small problems. Such a pattern of activation is in line with predictions of Siegler’s Distribution of Associations Model (Lemaire & Siegler, 1995; Siegler, 1988) which assumes a more peaked distribution of associations between operands and potential results for small compared to large multiplication problems.
In sum, the present thesis should shed some light into largely ignored aspects of arithmetic fact retrieval: The neural correlates of its acquisition, the consequences of its implementation in the base 10 place value system, as well as the specific effects of its semantic representation for automatic activation of correct multiplication facts and related results.
References
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Identifer | oai:union.ndltd.org:Potsdam/oai:kobv.de-opus-ubp:1250 |
Date | January 2006 |
Creators | Domahs, Frank |
Publisher | Universität Potsdam, Humanwissenschaftliche Fakultät. Institut für Linguistik / Allgemeine Sprachwissenschaft |
Source Sets | Potsdam University |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | Text.Thesis.Doctoral |
Format | application/pdf |
Rights | http://opus.kobv.de/ubp/doku/urheberrecht.php |
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