Der Erwerb des phonologischen Systems einer Drittsprache wurde bisher vor allem vor dem Hintergrund zweier Fragen betrachtet: (a) Welche Sprache oder Sprachen werden in die Zielsprache transferiert und (b) welche Rolle spielen inner- und außersprachliche Faktoren dabei? Hier sind grundsätzlich drei Szenarien denkbar, welche sich auch in den im Forschungsfeld vorherrschenden theoretischen Ansätzen wiederfinden. Bei einem bilingualen Sprecher, also einem Sprecher mit zwei Hintergrundsprachen, ist erstens der ausschließliche Transfer einer der Hintergrundsprachen möglich, wobei für die Vorhersage der Sprache, die am wahrscheinlichsten transferiert wird, verschiedene Parameter vorgeschlagen wurden, wie beispielsweise das typologische Verhältnis der Hintergrund- und Zielsprachen untereinander oder der Status einer der beiden Hintergrundsprachen als Erst- bzw. Zweitsprache. Weiterhin ist Transfer aus beiden Sprachen denkbar, bei dem ausschließlich „nützliche“, das heißt den Zielspracherwerb unterstützende Strukturen transferiert werden. Drittens kann gemischter Transfer, also der Transfer verschiedener Strukturen, aus beiden Hintergrundsprachen angenommen werden, der allerdings nicht unbedingt positiv ist, sondern stattdessen von vielfältigen Faktoren konditioniert wird. In anderen Worten wird hier die Möglichkeit angenommen, Strukturen aus beiden Hintergrundsprachen in die Zielsprache zu transferieren. Dieser letzte Ansatz entspricht am besten den bisherigen Forschungsergebnissen des Felds: Während sich bei Betrachtung verschiedener Sprachkombinationen und verschiedener (und verschiedenartiger) phonologischer Strukturen für sich genommen kein einheitliches Muster erkennen lässt, wird deutlich, dass gemischter Transfer möglich ist – dies kommt vor allem bei Studien zu graduellen phonetischen Phänomenen wie konkreter Vokalqualität oder Voice Onset Time zum Ausdruck. Bisherige Studien haben sich auf einzelne phonologische oder phonetische Phänomene beschränkt, anhand derer die entsprechenden Ansätze überprüft wurden. Bisher gibt es keine systematischen Untersuchungen mehrerer verschiedener Phänomene an denselben Sprechern. Da allerdings davon ausgegangen werden kann, dass phonologische Phänomene unterschiedliche strukturelle Eigenschaften haben, ist genau dies nötig. Um also die Mechanismen des gleichzeitigen Transfers mehrerer Sprachen auf eine Zielsprache, und somit auch die Interaktion der Hintergrundsprachen in Multilingualen besser zu verstehen, müssen mehrere phonologische Strukturen an denselben Sprechergruppen und mit denselben Methoden untersucht werden. Diese Forschungslücke will die vorliegende Arbeit schließen.
Hierfür wurde der Erwerb des Lautsystems der Drittsprache Englisch durch türkisch-deutsch bilinguale Lerner untersucht. Es wurden phonologische Strukturen des Englischen zur Untersuchung ausgewählt, die entweder im Deutschen (aber nicht im Türkischen), im Türkischen (aber nicht im Deutschen), oder in keiner der beiden Hintergrundsprachen vorkommen. Diese Unterteilung sollte dazu dienen den potentiellen Einfluss der jeweiligen Hintergrundsprache auf die Zielsprache identifizieren zu können.
In zwei Studien wurden jeweils die Perzeption und die Produktion der obengenannten Strukturen an türkisch-deutsch Bilingualen sowie an einer monolingual deutschen Kontrollgruppe getestet. Studie 1 testete junge Lerner des Englischen in den ersten Lernjahren, während Studie 2 Studierende der Englischen Sprach- und Literaturwissenschaft testete. Zusätzlich wurden extralinguistische Faktoren und biographische Details erhoben. In den beiden Studien sollte beantwortet werden, ob sich bilinguale und monolinguale Testpersonen in der Perzeption und/oder der Produktion der Zielstrukturen unterscheiden, ob diese Unterschiede durch Transfer aus den Hintergrundsprachen zu erklären sind und, falls dies nicht durchgehend der Fall ist, welche anderen strukturellen oder extralinguistischen Faktoren herangezogen werden können, um die Ergebnisse zu erklären. Zudem sollte geprüft werden, inwieweit Perzeption und Produktion zusammenhängen und welchen Effekt fortschreitender Spracherwerb hat.
Die Ergebnisse der beiden Studien dieser Arbeit bestätigen die Vermutung, die anhand der Kombination aus verschiedenen vorausgehenden Studien getroffen wurden: Transfer findet ausgehend von beiden Hintergrundsprachen statt, er kann positiv und negativ sein, und er wird von strukturellen Faktoren konditioniert. So zeigte sich im Vergleich ein deutlicher Einfluss – sowohl positiv wie auch negativ – des Türkischen auf die Perzeption und Produktion des Englischen bei den bilingualen Sprechern, aber ebenso ein Einfluss des Deutschen. Weiterhin konnte der gleichzeitige Einfluss beider Hintergrundsprachen auf einzelne Strukturen belegt werden. Perzeption und Produktion stehen bei keiner der Sprechergruppen in einer direkten Korrelation, allerdings kann anhand der Ergebnisse Perzeption als einer der Faktoren angenommen werden, der einen Einfluss auf die Produktion der zielsprachlichen Struktur hat. Als weitere Faktoren konnten der Grad der Markiertheit der Struktur, ihre artikulatorische Komplexität sowie das Fehlen eines artikulatorischen Ankers identifiziert werden. Eine Verschiebung der Transferquellen fand zwischen den beiden Studien, also bedingt durch fortgeschrittenen Erwerb, nicht statt. Es konnte allerdings gezeigt werden, dass Nachteile, die aufgrund der Hintergrundsprachen den Sprechergruppen entstanden, in der älteren Gruppe häufig ausgeglichen werden konnten.
Die Erklärungsansätze für das Autreten von CLI-Effekten waren abhängig von den Eigenschaften der einzelnen abgeprüften Strukturen und konnten nicht systematisch verallgemeinert werden. Dies bestätigte die wenig einheitlichen Einzelergebnisse vorhergehender Studien für die Perzeption und Produktion mehrerer verschiedener phonologischer Strukturen durch dieselben Sprechergruppen. So konnten methodische oder gruppeninterne Gründe für die sich widersprechenden Ergebnisse erstmals ausgeschlossen werden. Im vorletzten Kapitel dieser Arbeit werden darauf aufbauend alternative Gründe für die Ergebnisse erarbeitet. Hierfür wird das Konzept des komplexen verschachtelten (complex interlaced) eingeführt, das chaostheoretische Ansätze mit der Annahme einer hierarchischen Bit-Struktur verbindet.
Die vorliegende Arbeit trägt zu aktuellen Debatten im Bereich der Drittsprachforschung insofern bei, als dass sie als erste mehrere phonologische „Einheiten“ (bits), also Phoneme, Allophone, Prozesse etc., an den gleichen Sprechern testet. Dadurch wurde deutlich, dass die konkrete Struktur phonologischer Systeme in den Mittelpunkt der Forschung zum Drittspracherwerb rücken muss, damit vorhandene Muster erkennbar werden können. Zudem wird vorgeschlagen, verstärkt auf Forschungsergebnisse und Theorien aus anderen Bereichen, wie beispielsweise dem Sprachwandel, der Varietätenlinguistik und der Kontaktlinguistik zurückzugreifen, um letztendlich Forschung am Drittspracherwerb für den theoretischen Erkenntnisgewinn nutzbar zu machen. / Within the relatively new area of research on Third Language (L3) Acquisition, the subfield of phonology is growing, but still relatively understudied. Testing the current L3 models adopted from research on L3 syntax (see Rothman 2010, Bardel & Falk 2012, Flynn et al. 2004), the studies conducted in the area have mostly focused on the source and directionality of language transfer – both into the L3 and into the respective background languages – with some recent excursions into the role of extra-linguistic factors for multilingual learners (e.g., Wrembel 2015). The findings so far (mostly on production, with perception lagging behind) have been very diverse and, depending on the concrete study, can often be taken to give evidence for any of the prevalent models. This can be attributed to the wide range of different speaker and learner biographies as well as their language combinations and state of acquisition, but crucially the dilemma seems to be inherent in the (phonological) system in and of itself since viewing phonological interlanguage transfer as a one-dimensional and immediately transparent process based on direct correspondences between language systems does not seem to capture the complex nature of the phenomenon.
In this doctoral thesis I investigate the acquisition of an additional phonological system by child and adult German heritage speakers of Turkish. Specifically, I explore how the learners deal with diverse phonological contrasts that promote positive contra negative transfer from their HL (Turkish) and their L2 (German), and how their perception and production is modulated by cognitive and affective variables. Moreover, I test contrasts that can be found neither in the HL nor in the L2 phonological system.
The studies will shed light both on the question of how a new language is shaped and affected by different existing systems and on how two or more phonological grammars co-exist and/or interact in a speaker’s mind. I will argue that, rather than being regarded as simple full projection of language-specific property sets onto the target language, phonological transfer in multilinguals needs to be considered as a process of complex interactions and layers that are established on the level of individual phonological properties and abstract (typological) associations.
Identifer | oai:union.ndltd.org:uni-wuerzburg.de/oai:opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de:23141 |
Date | January 2021 |
Creators | Domene Moreno, Christina |
Source Sets | University of Würzburg |
Language | English |
Detected Language | German |
Type | doctoralthesis, doc-type:doctoralThesis |
Format | application/pdf |
Rights | https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/doku/lic_ohne_pod.php, info:eu-repo/semantics/openAccess |
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