Empirische Wissenschaften wie Biologie oder Psychologie konstituieren sich in ihrem Kern aus einer Menge vorläufiger Vermutungen über ihren Untersuchungsgegenstand. Ihre Konzepte und Gesetzmäßigkeiten stellen Verallgemeinerungen zurückliegender Beobachtungen dar, die als gültig angenommen werden, solange es niemandem gelingt, diese zu widerlegen. In den empirischen Naturwissenschaften bilden Messintrumente wie die Impedanzspektroskopie, deren Ergebnisse unter anderem in Materialwissenschaften oder in der Biomedizin genutzt werden, die Grundlage zur Erstellung von Hypothesen. Eine wissenschaftliche Analyse erfordert jedoch nicht nur das Suchen nach Gesetzmäßigkeiten, sondern ebenso ein Suchen nach Widersprüchen und Alternativen. Hypothesen nicht nur aufzustellen, sondern auch zu hinterfragen, gilt dabei als genuin menschliche Fähigkeit. Zwar werden zur Hypothesenbildung aus empirischen Daten häufig maschinelle Lernverfahren genutzt, doch die Bewertung solcher Hypothesen bleibt bislang ebenso dem Menschen vorbehalten wie das Suchen nach Widersprüchen und Alternativen.
Um diese menschliche Fähigkeit nachzubilden, schlägt die vorliegende Arbeit eine Strategie maschinellen Lernens vor, die sowohl am Leitbild eines kritischen Rationalismus als auch an Prinzipien konstruktivistischer Lerntheorien ausgerichtet ist. Im Gegensatz zu etablierten maschinellen Lernverfahren sehen konstruktivistische Lerntheorien nicht nur ein unüberwachtes oder überwachtes Lernen vor, sondern auch ein Lernen mittels Zweifel. Um einen solchen Lernprozess operationalisieren und automatisieren zu können, werden maschinell erlernte Zusammenhänge hier als Modelle im Sinne der Allgemeinen Modelltheorie nach Herbert Stachowiak interpretiert. Die damit verbundene Definition pragmatischer Eigenschaften als Metadaten erlaubt nicht nur die Selektion zu erlernender Daten aus einem gegebenen Datensatz, sondern auch das Erzeugen und Identifizieren von Beziehungen zwischen Modellen. Dadurch wird es möglich, konkurrierende Modelle für einen gegebenen Datensatz zu unterscheiden und deren Kohärenz zu überprüfen. Insbesondere können so Mehrdeutigkeiten mittels Modell-Metadaten erkannt werden.
Chancen und Risiken eines solchen Ansatzes werden hier anhand automatisierter Analysen impedanzspektroskopischer Messungen aufgezeigt, wie sie in physiologischen Untersuchungen an Epithelien erhoben werden. Da in empirischen Messungen naturgemäß nur Näherungswerte für die Ziel-Messgröße bestimmt werden können, wird das Verhalten von Epithelien hier detailliert modelliert und daraus synthetisierte Impedanzspektren als Grundlage von Analysen mittels konstruktivistischen maschinellen Lernens verwendet. Diese Analysen erfolgen in einem ersten Schritt in Form eines selbstständigen Explorierens eines Teils der Impedanzspektren, welches in einer hierarchisch geordneten Menge von Modellen resultiert. Anschließend werden diese Modelle zur Adaption konkreter Anwendungen genutzt. Als Beispiel für eine Klassifikationsanwendung werden Modelle adaptiert, die eine verlässliche Źuordnung eines Impedanzspektrums zu der zugrundeliegenden Zelllinie erlauben. Als Beispiel für eine Regressionsanwendung werden Modelle adaptiert, die eine Quantifizierung der epithelialen Kapazität erlauben. In beiden Anwendungen identifiziert das konstruktivistische maschinelle Lernen selbstständig die Grenzen der Gültigkeit der von ihm aufgestellten Hypothesen und liefert dadurch eine differenzierte und für Menschen nachvollziehbare Interpretation der analysierten Daten.
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:31838 |
Date | 01 October 2018 |
Creators | Schmid, Thomas |
Contributors | Universität Leipzig |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
Page generated in 0.0023 seconds