Selbstliebe ist ein sehr umstrittenes Konstrukt: Seit Jahrhunderten wird Selbstliebe als etwas dargestellt, das entweder als etwas Erstrebenswertes oder als etwas Verwerfliches gilt. Zum einen wird Selbstliebe als entscheidender Resilienz-Faktor in der Prävention von psychischen Erkrankungen und als Voraussetzung für Gesundheit beschrieben. Im Gegensatz zu diesem positiven Verständnis wird Selbstliebe oft mit Narzissmus assoziiert und gleichgesetzt.
Erich Fromm (*1900, †1980), Psychoanalytiker, Soziologe und Humanist des 20. Jahrhunderts, legte besonderen Wert darauf, Selbstliebe und Narzissmus zu unterscheiden und darüber hinaus die Bedeutung der Selbstliebe für das Individuum und die Gesellschaft als Ganzes aufzuzeigen. Er beschrieb, dass Selbstliebe und Narzissmus als Gegensätze zu verstehen sind: Narzisstische Symptome stellen das Ergebnis fehlender Erfahrungen des Gefühls, gewollt, geschätzt und bestätigt zu werden dar. Folglich kann Narzissmus als kompensatorische Reaktion auf fehlende Selbstliebe verstanden werden. Narzissmus bedeutet also nicht zu viel, sondern zu wenig Selbstliebe. Fromm betonte zudem, dass Liebe sich selbst und anderen gegenüber nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern Hand in Hand gehen.
Obwohl Fromm die Bedeutung von Selbstliebe und die Abgrenzung zu Narzissmus ausführlich dargelegt hat, sind diese Überlegungen kaum in die wissenschaftliche Forschung eingeflossen. Bereits 1939 formulierte Fromm: „Es wäre sehr verwunderlich, wenn sich die gleiche Doktrin [Gleichsetzung von Selbstliebe und Narzissmus] nicht auch in der wissenschaftlichen Psychologie wiederfände“. Bis heute - mehr als 80 Jahre später - erweist sich seine Einschätzung als erstaunlich zutreffend: Die akademische Forschung hat die Erforschung der Selbstliebe weitestgehend vernachlässigt. Dies steht in starkem Gegensatz zu Narzissmus, welcher in der Wissenschaft umfassend untersucht wurde. Dadurch dass der Begriff „Selbstliebe“ in verschiedenen wissenschaftlichen Artikeln im Titel erscheint, wird der Anschein erweckt, dass hierzu bereits viele Studien vorliegen. Operationalisiert wurde Selbstliebe jedoch mehrheitlich durch Narzissmus oder Selbstwertgefühl. Tatsächlich gibt es nur vier Studien - allesamt Dissertationen -, welche Selbstliebe explizit mit dem Ziel untersucht haben, eine Theorie der Selbstliebe zu entwickeln. Diese Studien weisen jedoch erhebliche inhaltliche Inkonsistenzen und methodische Schwächen auf.
Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, dazu beizutragen, dass diese Forschungslücke geschlossen wird und das Selbstliebe zum Gegenstand umfassender wissenschaftlicher Forschung gemacht wird. Nachdem im ersten Kapitel die Forschungsfragen hergeleitet und erläutert werden, folgen in den zwei darauf folgenden Kapiteln zwei eigenständige wissenschaftliche Artikel, welche im Rahmen der Dissertation verfasst wurden. Der erste Artikel befindet sich im Publikationsprozess, während der zweite noch zur Publikation eingereicht wird. Im letzten Kapitel schließt die Arbeit mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick.
Der erste wissenschaftliche Artikel wurde mit dem Ziel verfasst, ein methodisch fundiertes Modell der Selbstliebe vorzuschlagen. Hierfür wurden 13 halbstrukturierte Interviews durchgeführt. Interviewteilnehmer waren regelmäßig tätige Psychotherapeuten sowie Psychotherapeuten, welche Bücher oder Zeitschriftenartikel über Selbstliebe verfasst haben und Psychotherapeuten/Coaches, welche über langjährige Erfahrung in der Gruppenarbeit mit Selbstliebe verfügen. Die Daten wurden anhand von thematischen Analysen ausgewertet und im Weiteren validiert, systematisiert und in ein Modell überführt: Selbstliebe wird folglich als eine erlernbare Haltung des Wohlwollens sich selbst gegenüber definiert, welche die die drei Dimensionen Selbstkontakt, Selbstakzeptanz und Selbstfürsorge umfasst.
Der zweite wissenschaftliche Artikel beschreibt die Entwicklung eines auf dem Modell aufbauenden Fragebogens. Diese erfolgte in einem mehrstufigen Forschungsprozess: In Studie 1 wurde eine große Menge potenzieller Items gesammelt und relevante Items anhand eines Ratingverfahrens und einer Verständlichkeitsstudie (N = 11) ausgewählt. Anschließend wurde in Studie 2 (N = 280) die Faktorenstruktur mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse untersucht, woraufhin das Modell in seiner Komplexität reduziert wurde. In Studie 3 (N = 959) wurde die Faktorenstruktur aus Studie 2 kreuzvalidiert und die Skalenlänge erneut optimiert, sodass der Fragebogen zur Messung von Selbstliebe (SLQ) mit 27 Items entstand. Insgesamt zeigte der SLQ eine hohe interne Konsistenz sowie gute psychometrische Eigenschaften. Es konnte zudem gezeigt werden, dass Selbstliebe, Narzissmus, Selbstwertschätzung und Selbstmitgefühl unterschiedliche Konstrukte sind, sowie das Selbstliebe mit gesundheitsbezogenen Parametern wie Lebenszufriedenheit, Resilienz und depressiven Symptomen assoziiert ist.
Ich hoffe sehr, mit diesen Ergebnissen zu einem besseren Verständnis von Selbstliebe beigetragen und verschiedene weitere Forschungsarbeiten angeregt zu haben. Es gibt zahlreiche weitere vielversprechende Forschungsfragen, welche nun mit dem vorliegenden Modell und dem entwickelten Fragebogen untersucht werden können, unter anderem den Zusammenhang zwischen Selbstliebe und psychischer Gesundheit. Darüber hinaus hoffe ich, dass durch ein vertieftes wissenschaftliches Verständnis Selbstliebe in der breiten Öffentlichkeit differenzierter diskutiert wird.
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:78110 |
Date | 03 March 2022 |
Creators | Henschke, Eva |
Contributors | Sedlmeier, Peter, Strobel, Anja, Technische Universität Chemnitz |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | English |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
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