Die Unfallstatistik der kommerziellen Luftfahrt verzeichnet in diesem Jahrzehnt einen Höchststand betrieblicher Sicherheit. Es ist das Ergebnis einer jahrzehntewährenden Entwicklung der Luftfahrt, Vor- und Unfälle systematisch zu dokumentieren und aus ihnen lernen zu können, um zukünftig Unfälle zu vermeiden. Zwangsläufig führt diese Sicherheitsaffinität zu einer Überregulierung, die den Flugbetrieb in seinem bestehenden Konzept zunehmend konserviert und die Einführung von Innovation zunehmend hemmt. Einer der Gründe für diesen Trend ist, innovative Konzepte und Systeme nicht gefahrenlos während der Konzept-, Implementierungs- und Migrationsphase des Lebenszyklus hinsichtlich des Risikos analysieren zu können. Die Erlangung von Sicherheitsnachweisen gestaltet sich schwierig, wenn der bestehende Flugbetrieb kein innovationsinduziertes Risiko akzeptieren kann. Insbesondere bei sogenannten soziotechnischen Systemen, die den Menschen und die Interaktionsvorgänge mit der Technik berücksichtigen, können innovative Konzepte zu neuartigen Gefahren führen, die aus einem komplexen Zusammenspiel, z.B. zwischen den Piloten und den Fluglotsen mit Verfahren sowie Technik, resultieren. Ein Nachweis unter Berücksichtigung einer Zielsicherheit, wie z.B. ein Unfall auf eine Milliarde Flugstunden vor Inbetriebnahme, ist praktisch nicht leistbar.
Diese Arbeit befasst sich mit der simulationsgestützten Risikoanalyse und liefert ein Konzept zur Nutzung von Echtzeitsimulatoren für die Erbringung des Sicherheitsnachweises. Das Konzept adressiert dabei ein statistisches Problem, seltene und unbekannte Gefahrensituationen mit Hilfe von Echtzeitsimulationen nicht oder unzureichend häufig beobachten zu können, um einen Rückschluss auf die Risiken eines neuartigen Systems ziehen zu können. Dieses Problem ist bekannt als statistische Rechtszensur. Das Kernelement des Konzeptes ist die Stressinduktion mit Hilfe von Zeitdruck, die ein hohes Maß an Kontrollierbarkeit und Reproduzierbarkeit des induzierten Stresses verspricht. Nach Vorbild eines beschleunigten Ermüdungstests sorgen die stressintensivierten Simulationsbedingungen für ein zunehmendes Fehlerverhalten des Operateurs. Gefahrenereignisse und Vorfälle sollen aufgrund der Stressreaktion verstärkt zu beobachten sein, ohne diese direkt hervorzurufen. Nicht bekannte oder seltene Gefahren können somit beobachten werden, die ansonsten aufgrund der kleinen Eintrittswahrscheinlichkeit innerhalb der Simulationszeit nicht zu beobachten wären. Die Bestimmung des Risikos und der Sicherheitsnachweis werden unter Einbezug seltener Gefahren möglich. Bei gezieltem Anfahren von zwei bis drei Zeitdrucklasten lassen die aufgezeichneten Ereignisdaten einen Rückschluss von den beschleunigten auf die unbelasteten Bedingungen (Designstress) zu.
Eine experimentelle Studie testet eine prototypische Implementierung eines Zeitdruckinduktionsverfahrens hinsichtlich der Kontrollierbarkeit der Stressreaktion. Dies soll sowohl den Zeitdruck als geeigneten Stressor bestätigen als auch Hinweise auf die Effektivität des Induktionsverfahrens liefern. Der Versuchsaufbau umfasst die Arbeitsposition des Platzverkehrslotsen am Flughafen Frankfurt am Main mit drei zu kontrollierenden Pisten, Rollwegen und Vorfeld an einem Surface Movement Manager. Es wurden drei studentische Probanden aus 14 ausgewählt, trainiert und mit Hilfe des Induktionsverfahrens getestet. Die aufgezeichneten Stressreaktionen zeigen kontrollierbare Reaktionen in der beobachteten Häufigkeit des Vorfalltyps Runway Incursion und Zeitfehler. Individuelle Stressreaktionen, wie z.B. die individuelle Basisleistung und die Freiheitsgrade des Probanden, zwischen Risiko und Schnelligkeit abzuwägen, tragen zur Streuung der Stressreaktion erheblich bei. Ein modellbasierter Ansatz konnte eine Erklärung zu diesen Varianzen liefern und eine systematische Abhängigkeit der Stressreaktion der Probanden zum induzierten Zeitdruck verifizieren. Die Ergebnisse zeigen, dass ein lastenunabhängiges Verhältnis zwischen Risiko und Schnelligkeit für den Fall zu erwarten ist, dass der Operateur höhere Ziele seines Aufgabenbereiches bedienen kann. Bei zunehmender Zeitdrucklast ist dieses Verhältnis zunehmend variabel. Auf Basis der Ergebnisse werden weiterführende Hypothesen und Erklärungsansätze vorgestellt, die für die Realisierung des beschleunigten Stresstests und somit für die Unterstützung einer Risikoanalyse soziotechnischer Systeme dienen.:1 Wissenschaftliche Zielsetzung und Lösungsansatz 1
1.1 Einleitung 1
1.2 Der menschliche Fehler in der Luftfahrt 7
1.2.1 Der statistische Unfallbeitrag 7
1.2.2 Modelle des menschlichen Unfallbeitrags 10
1.3 Die Probleme gegenwärtiger Methoden der Risikoanalyse 11
1.3.1 Die „Safety Assessment Methodology“ 13
1.3.2 Modellbasierte Methoden 14
1.3.3 Die experimentelle Stresstestanalyse 16
1.3.4 Die Unfalluntersuchung 16
1.3.5 Das „Accident-Incident-Model“ 21
1.3.6 Die Problemanalyse 21
1.3.7 Die Schlussfolgerung 23
1.4 Die Echtzeitsimulation als mögliche Lösung 24
1.4.1 Der gegenwärtige Nutzen von Echtzeitsimulatoren im Flugbetrieb 24
1.4.2 Ein Konzept zur simulationsgestützten Risikoanalyse 26
1.4.3 Mögliche Einschränkungen bei der Nutzung der Echtzeitsimulation 33
1.4.4 Anwendungsszenarien der simulationsgestützten Risikoanalyse 37
1.5 Die Zielsetzung und Struktur der Arbeit 39
1.5.1 Die Problemdefinition und der Lösungsansatz 39
1.5.2 Die Untersuchungshypothese 41
1.5.3 Die Struktur der Arbeit 42
2 Konzeptentwicklung „Accelerated Risk Analysis“ 43
2.1 Die grundlegenden Begriffe 44
2.1.1 Die Wahl der Risikometrik 44
2.1.2 Die Wahl der Zielsicherheit 46
2.1.3 Die Wahl der Grundgesamtheit 46
2.1.4 Die Wahl der Unfallereignisverteilung 47
2.2 Das Sicherheitsargument 47
2.3 Die Abhängigkeit der Irrtumswahrscheinlichkeit zur Anzahl der Stichproben 48
2.3.1 Die Wahl der Irrtumswahrscheinlichkeit 48
2.3.2 Die Schätzung der Abhängigkeit anhand des Tschebyscheff-Ansatzes 48
2.3.3 Die Schätzung der Abhängigkeit anhand des Binomialansatzes 49
2.4 Ein Konzept zur Beschleunigung der Konvergenz 52
2.4.1 Die Beschleunigung durch Stresseinwirkung 52
2.4.2 Die Beschleunigung nach Tschebyscheff 53
2.4.3 Die Beschleunigung nach Binomialverteilung 53
2.5 Ein Konzept zur Stimulation sicherheitsrelevanter Ereignisse 54
2.5.1 Das Ziel der Stimulation 54
2.5.2 Die Wahl des Zeitdrucks als Stressor 54
2.5.3 Der Status Quo der Verfahren zur Induktion von Zeitdruck 57
2.5.4 Ein Verfahren zur Induktion von Stress 60
2.6 Die Regressionsanalyse zur Verifikation der Zielsicherheit 64
2.6.1 Die Regressionsanalyse zur Bestimmung der Unfallereignisverteilung 64
2.6.2 Die Regressionsanalyse zur Verifikation der Zielsicherheit 66
2.7 Die Verifikationsziele 71
3 Experimentelle Studie 73
3.1 Das Konzept der Studie 75
3.1.1 Die Wahl der unabhängigen und abhängigen Größen 75
3.1.2 Die Kausalhypothesen 76
3.1.3 Die Anforderungen an die Pilotstudie 76
3.1.4 Die Wahl der statistischen Tests 78
3.2 Das experimentelle Design 79
3.2.1 Die Auswahl der Arbeitsposition 79
3.2.2 Die Auswahl der Risikometrik 81
3.2.3 Die Definition der Primäraufgabe 82
3.2.4 Der Surface Movement Manager 85
3.2.5 Die Implementierung des Verfahrens „Konkurrenzdruck“ 86
3.2.6 Das Messverfahren 99
3.2.7 Die Befragung 101
3.2.8 Die Szenarienentwicklung 102
3.3 Die Steuerung des Wettbewerbs 106
3.3.1 Die Reaktion der Aktivzeit 107
3.3.2 Die Reaktion der Anzahl aktiver Verkehrsbewegungen 107
3.3.3 Das Verifikationsergebnis 108
3.4 Die Organisation der Durchführung 109
3.4.1 Die Akquisition der Probanden 109
3.4.2 Die Versuchsplanung 110
3.5 Die Kalibrierung der Basislast 110
3.6 Die Kalibrierung der Zeitdrucklastszenarien 113
3.6.1 Die Analyse der Reaktionszeit 114
3.6.2 Die Analyse des Zeitfehlers 116
3.6.3 Die Analyse der subjektiven Arbeitsbeanspruchung und des Zeitdrucks 117
3.6.4 Die Analyse der Runway Incursion 118
3.6.5 Die Bestimmung der Zeitdrucklastparameter 119
3.7 Die Analyse der Lastenabhängigkeit der Aktivzeiten 119
3.8 Die Analyse der Lern- und Müdigkeitseffekte 121
3.8.1 Die Lerneffekte 121
3.8.2 Die Erschöpfungsseffekte 121
3.9 Die Analyse der Stressreaktionen 122
3.9.1 Die Reaktionszeit 122
3.9.2 Die Aktivzeit 122
3.9.3 Das angepasste Zeitbudget 123
3.9.4 Die Arbeitsbeanspruchung und der subjektive Zeitdruck 123
3.9.5 Die Runway Incursion und der Zeitfehler 124
3.10 Diskussion der Ergebnisse 129
4 Abschlussdiskussion 133
4.1 Das Fazit über das Konzept „Accelerated Risk Analysis“ 133
4.1.1 Die Effektivität des Verfahrens und mögliche Anwendungsszenarien 134
4.1.2 Rückschluss auf die Modelle zur Bestimmung des Risikos 138
4.1.3 Implikationen durch Novizen- und Expertenprobanden 139
4.2 Die Anwendung auf andere Arbeitspositionen des Flugbetriebs 140
4.3 Ein Erklärungsansatz mit dem Contextual Control Modell 142
4.4 Ein Modell zur Beschreibung von Risikobereitschaft und Schnelligkeit 143
4.5 Mögliche Hypothesen für eine Folgestudie 144
4.6 Schlusswort 145
Abkürzungsverzeichnis 147
Formelzeichenverzeichnis 149
Abbildungsverzeichnis 153
Tabellenverzeichnis 155
Literaturverzeichnis 157
Danksagung 163
Anhang 165
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:30413 |
Date | 31 July 2017 |
Creators | Meyer, Lothar |
Contributors | Fricke, Hartmut, Pannasch, Sebastian, Technische Universität Dresden |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
Page generated in 0.0031 seconds