Hintergrund: Zu Beginn des Jahres 2020 verbreitete sich das Coronavirus Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2 (Sars-CoV-2) über Deutschland und mehrere Länder hinweg. Am 11. März 2020 rief die Weltgesundheitsorganisation eine Pandemie aus. Zur Versorgung der Menschen wurde im ambulanten Sektor in Rheinland-Pfalz noch im März 2020 eine parallele Struktur aufgebaut. Dazu wurden COVID-19-Ambulanzen, -Praxen und -Sprechstunden (parallele Versorgungsstruktur) etabliert, in denen positiv getestete COVID-19-Fälle und -Verdachtsfälle sowie Menschen mit Infektsymptomen wie Atemnot, trockenem Husten und Fieber, behandelt werden konnten. Das Ziel bestand darin, die Patientenströme zu trennen, um eine gleichzeitige Regel- und Coronaversorgung zu gewährleisten. Die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz (KV RLP) und die rheinland-pfälzischen Krankenkassen und ihre Ersatzkassen führten für die Versorgung in der parallelen Versorgungsstruktur die Coronaziffer 97700 ein, welche den besonderen Behandlungsbedarf während der Pandemie abbildete. Die Vertragsärzteschaft wurde bereits zu diesem Zeitpunkt besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Auf diese Situation im ambulanten Sektor traf die COVID-19-Pandemie, die für die ambulante Versorgung entsprechende Auswirkungen mit sich brachte. Einerseits gilt es Belastungen wie eine Verschärfung des Ärztemangels, einen hohen Anteil an bürokratischen Arbeiten oder das Fehlen von Medizinstudienplätzen anzunehmen. Andererseits eröffnen der Ausbau des ambulanten Potenzials oder der digitale Fortschritt neue Chancen. Fragestellung: Die Ziele dieser Dissertation bestehen darin, den Verlauf der Steuerung von Personen mit Diagnose U07.1 (COVID-19-Fälle, bei denen das Virus SARS-CoV-2 durch einen Labortest bewiesen wurde) und U07.2 (COVID-19-Fälle, bei denen SARS-CoV-2 nicht durch einen Labortest bewiesen wurde, die Erkrankung aber anhand eines klinischen und eines epidemiologischen Kriteriums vorliegt) in der parallelen Versorgungsstruktur zu analysieren. Es soll eruiert werden, ob Zusammenhänge zwischen der Inanspruchnahme der neuen Struktur und dem Geschlecht, der Altersgruppe oder der Herkunft (städtisch/ländlich) bestehen. Aufgrund der Besonderheit der Coronaziffer eignet sich die ambulante rheinland-pfälzische Versorgung zur Analyse der Inanspruchnahme dieser neu etablierten Strukturen, denn dadurch kann im Nachhinein festgestellt werden, ob Personen in der Coronastruktur behandelt wurden. In der vorliegenden Studie werden erstmals die Abrechnungsdaten der KV RLP zur Inanspruchnahme der parallelen Versorgungsstruktur in Rheinland-Pfalz untersucht. Ein weiteres Ziel liegt in der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen im Rahmen eines Pandemiemanagements für eventuell zukünftig aufkommende Pandemien für die ambulante Versorgung in Rheinland-Pfalz. Diese sollen aus Sicht der am Aufbau der Coronstruktur beteiligten Stakeholder:innen ermittelt werden. Zusätzlich soll analysiert werden, welche Chancen und Risiken für die weitere Arbeit im ambulanten Versorgungssektor in Rheinland-Pfalz durch die COVID-19-Pandemie hervorgingen und wie damit verfahren werden kann. Material und Methodik: Die Entwicklung der Inanspruchnahme der parallelen Versorgungsstruktur in Rheinland-Pfalz wurde auf Basis der Abrechnungsdaten der KV RLP im Zeitraum von März 2020 bis März 2021 untersucht. Das Analysesample umfasste 905 435 Patientenfälle, aus denen hervorgeht, ob zur Behandlung die parallele Versorgungsstruktur oder eine regelversorgende Praxis aufgesucht wurde. Um zusätzlich einen Überblick über die Nutzergruppen zu erhalten, wurden aus den Abrechnungsdaten abbildbare relevante Patientencharakteristika wie die Herkunft, das Geschlecht, die Altersgruppe und die Diagnose (Differenzierung nach U07.1 und U07.2) ermittelt. Die retrospektive Längsschnittsstudie in Form einer Sekundärdatenanalyse sollte mithilfe von deskriptiven und inferenzstatistischen Verfahren repräsentative Ergebnisse zur Inanspruchnahme der Coronastruktur liefern. Die Chancen und Risiken für den ambulanten Sektor, resultierend aus der COVID-19-Pandemie, sowie Handlungsempfehlungen für künftige Pandemien im Rahmen eines Pandemiemanagements für den ambulanten Versorgungssektor in Rheinland-Pfalz sollten durch leitfadengestützte, teilstandardisierte Experteninterviews ermittelt werden. Diese wurden mit Vertragsärzt:innen sowie mit Vertreter:innen von KV RLP, Kranken- und Ersatzkassen, Ministerium für Wissenschaft und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz (MWG) und Kommunen geführt, die am Aufbau der Coronastruktur beteiligt waren. Die Auswertung erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring. Ergebnisse: Rund 69 Prozent der Patient:innen nahmen die parallele Versorgungsstruktur im Untersuchungszeitraum in Anspruch. Die quantitativen Datenauswertungen zeigen, dass diese Struktur im Verlauf der Pandemie vermehrt genutzt und damit eine Trennung der Patientenströme erreicht wurde: Ab dem zweiten Quartal des Jahres 2020 wurde die Coronastruktur quartalsweise von jeweils mehr als der Hälfte der Patient:innen aufgesucht, wobei im ersten Quartal des Jahres 2021 rund 75 Prozent der Erkrankten dort behandelt wurden. Bei der Inanspruchnahme ließen sich nach dem Chi-Quadrat-Test signifikante Auffälligkeiten hinsichtlich der altersgruppen-, herkunfts-, und geschlechtsspezifischen Nutzung feststellen. Zusammenfassend zeigt sich bei Menschen bis einschließlich 49 Jahren, bei Frauen sowie bei Personen aus dem ländlichen Raum stammend eine höhere 10/353 Inanspruchnahme der Coronastruktur, als bei gegensätzlichen Merkmalsausprägungen. Logistische Regressionen untermauern diese Erkenntnisse weitgehend. Daraufhin erstellte Vorhersagemodelle geben jedoch noch keinen Aufschluss darüber, bei welchen Merkmalsausprägungen von Patient:innen (Alter, Geschlecht, Herkunft) vorhergesagt werden kann, ob diese die Coronastruktur in Anspruch nehmen. Darüber hinaus wurden 15 Experteninterviews zu den Chancen, Risiken und Handlungsempfehlungen geführt. Die Expert:innen bewerteten die Coronastruktur als sinnvolles Konstrukt, das für künftige Pandemien Anwendung finden sollte. Als Chancen aus der COVID-19-Pandemie für den ambulanten Versorgungssektor in Rheinland-Pfalz wurden Aspekte wie die hohe Bedeutung einer wohnortnahen ambulanten Versorgung, das Ambulantisierungspotenzial, die Zusammenarbeit der beteiligten Stakeholdergruppen sowie die Stärke des ambulanten Versorgungssektors und der Hausärzt:innen genannt. Risiken würden sich unter anderem aus der noch ausbaufähigen Digitalisierung, der anfangs nicht ausreichend vorhandenen persönlichen Schutzausrüstung und dem Ärztemangel ergeben. Es wurden Handlungsempfehlungen wie die Trennung von Patientenströmen, die Gewährleistung der finanziellen Sicherheit der Ärzteschaft, das Vorhalten von persönlicher Schutzausrüstung, die Zusammenarbeit der beteiligten Stakeholdergruppen und die Stärkung des ambulanten Sektors genannt. Schlussfolgerung: Die Dissertation hebt den Stellenwert der parallelen Versorgungsstruktur in Rheinland-Pfalz während der COVID-19-Pandemie hervor. Die Ergebnisse legen nahe, dass diese Struktur im Verlauf der Pandemie verstärkt in Anspruch genommen wurde und somit das Ziel der Trennung der Patientenströme erreicht wurde. Die Interviewergebnisse zeigen, dass dadurch aus Sicht der Befragten eine ausreichende Patientenversorgung gewährleistet und vielfältige Chancen für weitere Krisen in dem Konzept liegen könnten. Schlussfolgernd daraus könnte das Konzept der Coronastruktur um die formulierten Handlungsempfehlungen und Erfahrungen ausgeweitet werden und die Grundlage für ein ambulantes Pandemiemanagementkonzept in Rheinland-Pfalz bilden. Die erarbeiteten Handlungsempfehlungen wurden durch den Vorstand der KV RLP bewertet. Diese finden nicht nur Eingang in die Konzeption eines Pandemiemanagements bei der KV RLP, sondern setzen auch Impulse zur weiterführenden Verwendung. So könnten Teile der Erkenntnisse in den Pandemieplan des Landes Rheinland-Pfalz eingearbeitet werden oder Teilergebnisse aufgegriffen und weiter ausgearbeitet werden. Zum Beispiel die Honorierung der Vertragsärzteschaft, die durch eine bundesweite Pandemieziffer, ähnlich der Regelung in Rheinland-Pfalz, in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) Eingang finden könnte. Folglich kommt der Anerkennung der Medizinischen Fachangestellten (MFA) eine große Bedeutung zu, der ebenfalls durch eine Ziffer zur „Versorgung eines Patient:innen durch einen nicht ärztlichen Mitarbeitenden während einer Pandemie“ im EBM begegnet werden könnte.
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:91783 |
Date | 15 July 2024 |
Creators | Engelmann, Doreen |
Contributors | Schmitt, Jochen, Eberlein-Gonska, Maria, Technische Universität Dresden |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
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