„Nahaufnahme: Eine Gruppe an Kindern befindet sich mit ihren zwei Pädagog:innen in einem Spielraum ihrer Kindertageseinrichtung und spielen das TwisterTM-Spiel. Sie wurden von einem Forschungsteam dazu eingeladen, dies zu tun. Ein:e Vertreter:in des Teams ist anwesend und filmt das Geschehen…“ (S. 204)
Dies ist die zentrale Untersuchungssituation, auf welche sich die mikrosoziologische Forschungsarbeit bezieht. In dieser wurden Handlungspraxen von Kindern und Erwachsenen in non-formalen Gruppensituationen untersucht.
Für die explorative empirische Arbeit waren drei zentrale Fragen leitend:
1) Inwiefern sind Kinder und Erwachsene an der Konstituierung von (non-formalen) Gruppensituationen beteiligt und welche Strategien von Gruppenführung und Gruppe lassen sich beobachten?
2) In welchem Verhältnis stehen die Beteiligten zueinander?
3) Welchen Einfluss haben die Beteiligten aufeinander? Wo und Wodurch wird ihr Einfluss begrenzt?
Für die Beantwortung der Fragen wurde auf eine Stichprobe von bereits erfolgten und videografierten 34 Gruppensituationen der Tandem-Studie, an der die Autorin als wissenschaftliche Mitarbeiterin mitwirkte, zurückgegriffen, weil sie sich als besonders geeignet für die Beforschung des vorliegenden Themas erwiesen. Die videografierten Gruppensituationen wurden gesichtet und sechs davon wurden sukzessive nach dem Prinzip des Theoretischen Samplings ausgewählt. Diese wurden mit Hilfe der Grounded-Theory-Methodologie vertiefend analysiert. Im Ergebnis ist eine substantive Theorie des Nebenhandelns entstanden.
Im Zentrum der Ergebnisdarstellung steht das Kernphänomen des Nebenhandelns von Kindern in non-formalen Gruppensituationen. Die Kinder agieren auf sehr subtile und verborgene Art parallel zum von Erwachsenen dominierten vorrangigen Geschehen spezifische Handlungen aus und teilen diese, wodurch sie sich gegenseitig in Abgrenzung zu den Erwachsenen als Kinder ausweisen und verbinden. Das Nebenhandeln wird als autonome, situative und vor allem nonverbale Strategie der Kinder beschrieben, die dazu dient ihre gruppalen Bezüge in einer von Erwachsenen initiierten und angeleiteten Situation aufrecht zu erhalten. Die Kinder benötigen diese Bezüge, um sich gemeinsam ins Verhältnis zur Situation zu setzen.
Das Kernphänomen des Nebenhandelns wird im Rahmen der substantiven Theoriebildung in Beziehung zum Kontext sowie zu ursächlichen und intervenierenden Bedingungen gesetzt, in seinen Merkmalen beschrieben und bezüglich seiner Konsequenzen diskutiert. Dabei wird auch die Rolle der Erwachsenen als Führende und ihr Umgang mit dem Phänomen des Nebenhandelns besprochen.
Gruppensituationen sind komplex, insbesondere, wenn Kinder daran beteiligt sind. Das Erfassen dieser Komplexität stellte eine besondere methodische Herausforderung dar. Es wird deutlich, dass es der (Weiter-)Entwicklung von gegenstandsbezogenen Auswertungsmethoden für Gruppensituationen bedarf, die auch für horizontale Betrachtungen länger andauernder komplexer Situationen anwendbar sind.
Eine zentrale Stellschraube, die es braucht, um den Gruppenforschungsprozess in eine sichere Bahn zu lenken, ist die Bestimmung des Konzeptes, das dem Begriff ‚Gruppe‘ zu Grunde gelegt wird. Es ist deutlich geworden, dass es einen altersspezifischen Gruppenbegriff braucht. Die meisten verwendeten Gruppenkonzepte entstammen der Beforschung von Erwachsenengruppen und fokussieren neben den Merkmalen Unmittelbarkeit, Diffusität und Zugehörigkeit die verbale Kommunikation als verbindende Operation, die darüber stattfindende Konstituierung stabiler und dauerhafter Strukturen sowie die pragmatische Zweckausrichtung. Insbesondere diese drei letztgenannten Merkmale entsprechen aber nicht der Typologie von Kindern, was insbesondere durch die Analyse der Nebenhandlungen bestätigt werden konnte. Die kindlichen (Neben-)Handlungspraxen zeichnen sich unter anderem durch eine nonverbale Kommunikation sowie durch etwas hochgradig Situatives und Zweckfreies aus. Somit lässt sich schließen, dass es eines Konzeptes bedarf, das den Terminus ‚Gruppe‘ zwar mit möglichst konkreten Merkmalen in Abgrenzung zu anderen sozialen Formen unterlegt und dennoch der Vielschichtigkeit altersdifferenter gruppaler Erscheinungsformen gerecht wird.
Die Ergebnisse der soziologischen Forschungsarbeit liefern abschließend zumindest Denkanstöße für den pädagogischen Fachdiskurs. Es wird deutlich, dass eine gänzliche Lenkung von Kindergruppen nicht möglich ist und es ein Anliegen der beteiligten Erwachsenen sein sollte, das eigeninitiierte Handeln der Kinder stärker zu berücksichtigen und sich von defizitären Zuschreibungen (z.B. dass das Handeln der Kinder eine ‚Störung‘ sei) zu lösen. Prinzipiell „kann empfohlen werden, das Handlungsrepertoire der Fachkräfte im Umgang mit Gruppen, deren Prozessen und Dynamiken sowie ihre eigene Verortung innerhalb der Gruppen professionell auszurichten.“ (S. 222):1. Einführung
2. Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
2.1 Ein Bild von Gruppe
2.1.1 Gruppe ist Verbindung
2.1.2 Gruppe ist ein Geflecht
2.1.3 Gruppe ist ein System
2.2 Gruppen in Kindertageseinrichtungen
2.2.1 Sekundär- und Primärgruppen
2.2.2 Formale, non-formale und informale Gruppen
2.2.3 Fremd- und Eigengruppen
2.3 Kindergruppen
2.3.1 Bilden von Peergruppen
2.3.2 Sozialisation in Kindergruppen
2.3.3 Lernen von Kindergruppe
2.4 Ein Bild von Gruppenführung
2.4.1 Gruppenführung ist Teil des Geflechtes
2.4.2 Gruppenführung ist ein System
2.5 Gruppenführung in Kindertageseinrichtungen
2.5.1 Klassenführung
2.5.2 Führungsstil gegenüber Kindergruppen
2.5.3 Didaktik des Zwischenraumes
2.5.4 Einflussmöglichkeiten auf informale Peerbeziehungen
3. Eigener Forschungsbeitrag
3.1 Forschungsdesign
3.1.1 Vorstrukturiertes Setting
3.1.2 Stichprobe
3.1.3 Beobachtung
3.1.4 Auswertung
3.1.5 Analyse
3.2 Analyse ausgewählter Gruppensituationen
3.2.1 Aufteilen der Gruppe
3.2.2 Vermeiden von Gruppe
3.2.3 Eine dynamische Gruppe
3.2.4 Kinder mit Migrationshintergrund
3.2.5 Eine fokussierte Gruppe
3.2.6 Ein Haufen kleiner Kinder
3.3. Ein erstes Fazit – Erwachsene führen, Kinder führen aus
3.3.1 Spielstruktur
3.3.2 Einzigartiges Spielgeschehen
3.3.3 Gesamteindruck
3.4 Nebenhandeln der Kinder
3.4.1 Berühren, Bewegen, Spielen, Streiten
3.4.2 Berühren, Bewegen, Plaudern
3.4.3 Berühren, Bewegen, Lachen
3.4.4 Lachen, Lümmeln, Plaudern, Spielen
3.4.5 Bewegen, Spielen, Beobachten
3.4.6 Berühren, Bewegen, Lachen, Spielen
3.4.7 Reaktion der Erwachsenen
3.4.8 Nebenhandeln der Erwachsenen
3.4.9 Nebenhandeln von Erwachsenen und Kindern
3.5 Ein zweites Fazit - Nebenhandeln der Kinder und seine Bedingungen
3.5.1 Merkmale des Nebenhandelns
3.5.2 Kontext und Bedingungen des Nebenhandelns
3.6 Diskussion – Fokus: Nebenhandeln
3.6.1 Nebenhandeln ist eine „Taktik“
3.6.2 Nebenhandeln ist eine „sekundäre Anpassung“
3.6.3 Nebenhandeln konstituiert eine „Hinterbühne“
3.6.4 Nebenhandeln ist eine „Operation“
4. Gruppales Nebenhandeln – Theorie, Limitierungen und Schlussfolgerungen
4.1 Theorie des gruppalen Nebenhandelns
4.2 Limitierungen und Schlussfolgerungen
5. Literaturverzeichnis
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:79090 |
Date | 09 May 2022 |
Creators | Schneider-Andrich, Petra |
Contributors | Lenz, Karl, Brandes, Holger, Technische Universität Dresden |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
Relation | https://doi.org/10.1026/2191-9186/a000516 |
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