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Symptome, Komorbiditäten und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie

Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter zeichnet sich durch ein wachsendes Unbehagen in Bezug auf das biologische Geschlecht aus. Diese Inkongruenz zwischen biologischem und erlebtem Geschlecht verschärft sich häufig mit dem Eintritt in die Pubertät. Geschlechtsdysphorische Kinder sind häufiger als Gleichaltrige von psychiatrischen Komorbiditäten wie Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder Suizidalität betroffen. Die Studie dient der Darstellung der Symptome, der Behandlung sowie der Komorbiditäten von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie, die an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Leipzig betreut werden. Der Zeitraum der Studie umfasst die Jahre von 2005 bis 2018. In diesem Zeitraum stellten sich insgesamt 68 Kinder bzw. Jugendliche in der endokrinologischen Sprechstunde aufgrund einer Geschlechtsdysphorie vor. Von diesen schlossen wir 66 in die Studie ein. Die Daten wurden anonymisiert aus den Patientenakten erhoben und anschließend deskriptiv analysiert. Der Behandlungsvertrag am Universitätsklinikum Leipzig beinhaltet eine Einverständniserklärung zum anonymisierten Nutzen von Patientendaten. Für alle erfassten Patient*innen liegt dieser Vertrag und das Einverständnis vor, wogegen die Ethik-Kommission an der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig keine ethischen, wissenschaftlichen oder rechtlichen Bedenken erhob.
Wir stellten einen deutlichen Anstieg der Patientenzahl in den Jahren 2017 und 2018 fest. Während sich in den Jahren von 2005 bis 2011 lediglich ein oder gar kein Kind im Jahr mit Geschlechtsdysphorie vorstellte, erhöhte sich die Zahl 2017 auf 12 und 2018 auf 18 Vorstellungen. Diese Entwicklung deckt sich mit Daten aus einem Behandlungszentrum in Amsterdam, die ebenfalls einen deutlichen Anstieg der Patientenzahlen feststellen konnten.
Das Geschlechterverhältnis liegt bei 4,5:1 (w:m). Damit widerspricht unser Ergebnis Studien, die ein Geschlechterverhältnis beschreiben, das teilweise deutlich in Richtung der dem biologischen Geschlecht nach Jungen verschoben ist. Jedoch zeigen aktuellere Studien übereinstimmend die Tendenz der Angleichung des Geschlechterverhältnisses ab der Pubertät. Eine mögliche Ursache könnte eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz bzw. Toleranz von jungenhaften Eigenschaften und Verhaltensweisen bei Mädchen als mädchenhaften Eigenschaften und Verhaltensweisen bei Jungen im Kindesalter sein [5, 32, 35]. Dies könnte bedingen, dass Mädchen sich erst mit Eintritt in die Pubertät und der damit aggravierenden psychischen Belastung in Behandlungszentren vorstellen.
Das Geschlechterverhältnis gleicht sich auch während der letzten Jahre immer mehr an. Während in der Zeit vor 2000 das Geschlechterverhältnis bezogen von Jungen zu Mädchen mit GD in Toronto bei 5,75:1 und in Amsterdam bei 2,93:1 [8] lag, näherte es sich nach 2000 in Toronto auf 3,41:1 [33] und in Amsterdam auf 1,68:1 (2008 – 2011) [28] an. Diese Theorie wird durch eine deutsche Studie von Garrels et al. [15] und anderen europäischen Studien [12, 23, 30] bestärkt. Neuste Untersuchungen sprechen gar von einer Umkehr des Geschlechterverhältnisses [7, 29]. Auch in dieser Arbeit lässt sich eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses bezogen auf die Zeit beobachten. So liegt das Verhältnis von Mädchen zu Jungen von Geburtsgeschlecht ausgehend im Zeitraum von 2005 bis 2016 bei 7,2:1. Im Zeitraum von 2017 bis 2018 nähert es sich auf 3,3:1 an. Somit entspricht unser Ergebnis den Tendenzen neuerer Studien [28, 33].
Durchschnittlich lag das Alter der Jugendlichen bei ihrer ersten Vorstellung in der endokrinologischen Sprechstunde bei 13,6 Jahren. Dieses Alter und die damit häufig schon weiter fortgeschrittene körperlicher Entwicklung kann sowohl Ärzt*innen als auch Patient*innen vor Probleme stellen. Die WPATH-SOC [10] empfehlen eine frühe Therapie mit GnRH-Analoga (ab Tanner-Stadium 2), um bessere Behandlungs-ergebnisse und eine Minderung der psychischen Belastung zu erreichen. Auch Studien zeigten, dass das psychische und operative Ergebnis besser ist, wenn die Pubertät bei Behandlungsbeginn noch nicht zu weit vorangeschritten ist [9, 11].
Die Symptome der Geschlechtsdysphorie konnten wir in vier Gruppen gliedern. Diese sind 1. das Verhalten im Spiel, die Wahl des Spielzeugs und die Wahl der Spielpartner*innen/Freund*innen, 2. Die Ablehnung geschlechtsspezifischer Kleidung, 3. die Ablehnung des Geschlechts, Ablehnung des eigenen Körper und den geschlechtsspezifischen körperlichen Veränderungen und 4. die deutliche Äußerung eines Kindes oder Jugendlichen, das Geschlecht wechseln zu wollen.
Außerdem konnten wir das zeitliche Auftreten der Symptome erheben. Dabei zeigte sich, das bei knapp dreiviertel (72,7%) der Kinder die Symptome bereits vor der Pubertät entwickelten, die meisten von ihnen (93,8%) bereits vor der Einschulung. 16 Kinder (24,2%) entwickelten erste Symptome mit Eintritt in die Pubertät bzw. im Verlauf der Pubertät.
Die Therapie von Patient*innen mit einer Geschlechtsdysphorie gliedert sich in 3 Phasen: Die reversible Therapie mit GnRH-Analoga, die die Hypophysen-Gonaden-Achse hemmen und damit das Voranschreiten der Pubertät verhindern, die teilweise reversible Therapie mit Testosteron bzw. Östrogenen, sowie die irreversible chirurgische Therapie, die verschiedene Möglichkeiten der Geschlechtsangleichung bietet. Von den in der Studie betrachteten Patient*innen werden 42 (63,6%) mit GnRH-Analoga behandelt, 24 dieser Patient*innen (36,4%) nehmen geschlechtsangleichende Hormone ein. Operationen zur Geschlechtsangleichung wurden bei fünf der 66 Patient*innen (7,6%) durchgeführt, was entsprechend dem WPATH-SOC nach stabilem Rollenwechsel und einjähriger Testosterontherapie im Einzelfall möglich ist [10]. Die Therapie mit GnRH-Analoga und geschlechtsangleichenden Hormonen wurde nur von einem Patienten unterbrochen. Die übrigen 41 Patient*innen führten die Therapie nach Beginn weiter, was eine Zufriedenheit mit der Unterdrückung der Pubertät vermuten lässt. Vor oder während der endokrinologischen Behandlung waren 58 der Jugendlichen (87,9%) in regelmäßiger psychologischer Betreuung. Wir fanden aufgrund der psychologischen differentialdiagnostischen Untersuchung und der Anamnesen heraus, dass 30 Jugendliche (45,5%) Anzeichen mindestens einer psychischen Komorbidität auswiesen. Die Häufigkeit und Art der psychischen Komorbiditäten decken sich mit den Ergebnissen anderer Studien [14, 16].
Kinder und Jugendliche, bei denen die Pubertätsentwicklung bei Erstvorstellung bereits über das Stadium P3/G3/B3 nach Tanner überschritten war, leiden häufiger unter Komorbiditäten als Kinder und Jugendliche, die sich früher vorgestellt haben und dementsprechend früher therapiert werden konnten. Zu beachten ist allerdings, dass nur schwer zu trennen ist, welchen Ursprung die psychischen Komorbiditäten haben. Daher ist davon auszugehen, dass einige Komorbiditäten ebenso aus eigener Unsicherheit und sekundären Interaktionsproblemen mit dem familiären und sozialen Umfeld resultieren können.
Auch die familiären Verhältnisse und die Reaktionen der Eltern auf ein Coming-Out ihrer Kinder legen nahe, dass eine Familientherapie wichtige Unterstützung für die Patient*innen sein kann. So haben insgesamt 16 Jugendliche (24,2%) negative Reaktionen in Bezug auf ihre Geschlechtsdysphorie innerhalb der eigenen Familie erfahren und berichteten von Ablehnung eines oder mehrerer Familienmitglieder. Erfahrungen mit körperlicher Misshandlung wurde von drei Kindern (4,5%) berichtet, wobei aus der Anamnese nicht hervorgeht, in welchem Zusammenhang diese zur Geschlechtsdysphorie steht. Auch andere Studien haben gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mit GD häufiger Opfer verbaler und körperlicher Gewalt werden und diese sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt [1, 16].
Im Freundeskreis haben die Kinder und Jugendlichen häufig positive Reaktionen nach ihrem Outing erhalten, jedoch berichten 17 Jugendliche (25,8%) von Mobbing aufgrund ihrer Geschlechtsdysphorie. Studien zeigen, dass Mobbing ein niedriges Selbstbewusstsein, Einsamkeit, Depressionen, Suizidgedanken und -versuche und Suizide hervorrufen kann [26]. Diese Erfahrungen können die weitere Schulzeit bis hin ins Erwachsenenalter beeinflussen [19] und sollten daher im ärztlichen Gespräch thematisiert werden.
Durch diese Studie soll dargestellt werden, wie komplex und interdisziplinär die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie ist. Gleichzeitig sollte hervorgehoben werden, wie einschneidend und prägend eine Geschlechtsdysphorie für die Betroffenen und ihre Familien ist, besonders wenn spezialisierte Hilfe fehlt. Daher ist es wünschenswert, Strukturen zu schaffen, die es Patient*innen und Eltern, aber auch niedergelassenen Pädiater*innen erleichtern, Hilfe von spezialisierten Zentren zu erhalten. Das bietet die Möglichkeit der frühzeitigen Anbindung, Aufklärung über Behandlungsoptionen, Unterstützung bei akuten Belastungssituationen, die z.B. im Rahmen des Outings entstehen können sowie die Prävention als auch frühzeitige Therapie möglicher Komorbiditäten.:1 Einleitung
1.1 Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter
1.1.1 Definitionen
1.1.2 Prävalenz und Geschlechterverhältnis
1.1.3 Diagnosekriterien
1.1.4 Behandlung
1.1.4.1 Mögliche Nebenwirkungen der pubertätshemmenden Therapie mit GnRH-Analoga
1.1.5 Ziel der Studie
2 Publikationsmanuskript
3 Zusammenfassung
4 Literaturverzeichnis
5 Darstellung des eigenen Beitrags
6 Erklärung über die eigenständige Abfassung der Arbeit
7 Lebenslauf
8 Danksagung

Identiferoai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:76233
Date12 October 2021
CreatorsSpecht, Annika Alica
ContributorsUniversität Leipzig
Source SetsHochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden
LanguageGerman
Detected LanguageGerman
Typeinfo:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text
Rightsinfo:eu-repo/semantics/openAccess

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