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Dolmetschen als komplexe Dienstleistung: Marktfähige Dolmetschkompetenzen und ihre Vermittlung

Die universitäre Lehre steht heute vor spezifischen Herausforderungen. Unter zum Teil schwierigen Rahmenbedingungen soll sie Studierende auf eine erfolgreiche Berufstätigkeit in einem volatilen, zunehmend globalisierten und digitalisierten Arbeitsumfeld vorbereiten, die Einheit von Forschung und Lehre umsetzen und in beiden eine hohe Qualität gewährleisten.
In der Folge von „Bologna“ ist die Vermittlung praxisgerechter Kompetenzen für den Arbeitsmarkt (Employability) zur zentralen Aufgabe der Hochschulen geworden. Das gilt auch für die Dolmetschausbildung. Sie muss zukünftige Dolmetscher auf einen dynamisch wachsenden und sich verändernden Markt vorbereiten: Neben neuen Dolmetschformen und Digitalisierung prägen die Verwendung des Englischen als Lingua Franca, extrem variable Arbeitsbedingungen und wachsender Kostendruck den Wandel des Berufsbildes.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Dissertation, welche Kompetenzen eine marktgerechte Dolmetschausbildung vermitteln muss und kann. Weil das Dolmetschen eine Dienstleistung ist, verbindet sie dabei interdisziplinär die Perspektiven von Dolmetschforschung und Wirtschaftswissenschaften.
Dolmetschen ist eine komplexe Dienstleistung, bei der die Kunden als Vertragspartner, Leistungsnutzer und auch als externer Faktor der Leistungserbringung eine zentrale Rolle spielen. Das Verhältnis zwischen Leistungserbringer und Kunde ist durch Unsicherheiten und Informationsasymmetrien geprägt. Zudem haben Dolmetschdienstleistungen einen hohen Individualisierungsgrad; sie lassen sich kaum standardisieren und können in konkreten Leistungssituationen verschiedenste, schwer vorhersehbare Probleme mit sich bringen. Zukünftige Dolmetscher benötigen Kompetenzen, wie sie mit diesen Eigenheiten komplexer Dienstleistungen umgehen können.
Eine hohe Qualität der erbrachten Dienstleistung ist ein erfolgskritischer Faktor für Leistungserbringer im Wettbewerb. Sie wird durch eine systematische und prozessorientierte Qualitätssicherung gewährleistet. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Qualitätswahrnehmung der Kunden von ihren Erwartungen abhängt und dass diese Wahrnehmung vor allem in bestimmten kritischen Momenten im Dienstleistungsprozess geprägt wird. Gerade Erbringer komplexer Dienstleistungen mit hohem Individualitätsgrad benötigen daher die Fähigkeit, sich an immer neue Situationen anzupassen und darin multiple Rollen ausfüllen.
Forschungen zur Dolmetschqualität zeigen, dass vor allem inhaltliche Qualitätskriterien von Dolmetschern und Nutzern als relevant angesehen werden, aber die Nutzererwartungen an eine Dolmetschleistung – und damit auch die Qualitätswahrnehmung – trotzdem stark mit dem situativen Kontext variieren. Denn Nutzer von Dolmetschleistungen können in der Regel deren inhaltliche Adäquatheit schlecht einschätzen und orientieren sich deshalb bei der Qualitätsbeurteilung an anderen Kriterien, die sich eher auf Aspekte der Präsentation und auf die konkret ausgefüllte Dolmetscherrolle beziehen. Deshalb muss die Dolmetschausbildung beiden Konzepten gerecht werden.
Dolmetscher können in einer gegebenen Dolmetschsituation verschiedene kommunikative Rollen ausfüllen, von der Standardrolle des „unsichtbaren“ neutralen Sprachrohrs des Redners bis hin zum aktiv eingreifenden, vermittelnden und die Kommunikation beeinflussenden Akteur. Konkrete Rollenerwartungen von Nutzern an Dolmetscher sind wiederum abhängig von individuellen bzw. situationsabhängigen Bedürfnissen. Daher müssen Dolmetscher flexibel mit verschiedenen Situationen und darin relevanten, oft uneindeutigen oder auch widersprüchlichen Normen- und Rollenerwartungen umgehen und die jeweils angemessene eigene Rolle „aushandeln“ und ausfüllen können. Die dazu nötigen Fähigkeiten müssen wesentlich durch praktische Erfahrung erworben werden.
Grundlage jeder kompetenzorientierten Lehre sind berufsspezifische Kompetenzmodelle. Auch in der Dolmetschforschung wurde eine Reihe von mehr oder weniger detaillierten Kompetenzmodellen entwickelt, die in der Arbeit vorgestellt werden. Das umfangreichste und detaillierteste dieser Modelle ist das „Leipziger Kompetenzmodell“ (Kutz 2010), das auch der Ausbildung am IALT zugrunde liegt. Auch die DIN 2347 zum Konferenzdolmetschen führt benötigte Kompetenzen auf.
Führt man die genannten Modelle zusammen und ergänzt sie mit Blick auf die referierten Ergebnisse zu Dolmetschqualität und zu den Anforderungen von Kunden und Nutzern an Dolmetscher, ihre Rollen und ihre Leistungen, ergibt sich ein komplexes Bild benötigter Kompetenzen, welches in der Arbeit detailliert besprochen wird.
Die Mehrzahl der erforderlichen Kompetenzen lassen sich am besten in praktischen, möglichst realistischen Übungen vermitteln. In der Berufs- und Hochschuldidaktik setzen sich zunehmend sozialkonstruktivistische Lernansätze durch, die Lernen als situierten sozialen Prozess beschreiben. Diesen Ansätzen zufolge können professionelle Kompetenzen am besten mit lernerzentrierten Methoden des situierten Lernens vermittelt werden, die möglichst realistische Übungssituationen, Metakognition und Selbststeuerung nutzen. Auch die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit haben gezeigt, dass die professionellen und Dienstleistungskompetenzen, die zu einer „marktreifen Kompetenz“ von Dolmetschern gehören, nicht anders als „situiert“ vermittelt werden können.
Die Dolmetschdidaktik strebt schon seit Langem nach möglichst viel Praxis- und Situationsbezug. Dafür wird in der Lehre vor allem Praxis simuliert, zum Beispiel in Mock-Konferenzen oder Rollenspielen im Seminar. Simulationen kommen aber an ihre Grenzen, wenn sie der Vielfalt möglicher Problemsituationen in der Realität nicht gerecht werden können. Eine Möglichkeit, mehr Vielfalt und Realitätsbezug in die Lehre zu bringen, ist das projektbasierte Lernen (Kiraly 2000, 2012), welches in der Arbeit an verschiedenen Beispielen vorgestellt wird. Die Projektarbeit bietet auch einen didaktischen Mehrwert, weil Studierende selbstständig, kooperativ und zielgeleitet arbeiten und Soft Skills wie Teamwork, Koordination, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Organisation, Planung und Zeitmanagement trainieren können. Ein übergeordnetes Ziel dieses didaktischen Ansatzes ist das „Empowerment“ der Studierenden, die damit befähigt werden, Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen.
Am IALT in Leipzig wird bereits seit einiger Zeit mit vielversprechenden Ergebnissen mit studienbegleitenden Praxis-Projekten gearbeitet. Ziel ist es, die am Dolmetschmarkt benötigten Kompetenzen wirksamer zu vermitteln, die Internationalisierung der Lehre zu befördern und die Studierenden mit wichtigen Trends wie Digitalisierung und ELF vertraut zu machen. In der Arbeit werden einige ausgewählte Projekte beschrieben. Die angebotenen Projekte finden größtenteils im Kontext von „Service Learning“ statt. Die Universität Leipzig fördert Service Learning oder „Lernen durch Engagement“ (LdE) als eine Methode, um das gesellschaftliche Engagement von Studierenden außerhalb universitärer Kontexte mit ihrer fachlichen Ausbildung zu verbinden. Die bereits gemachten Erfahrungen zeigen, dass Projektarbeit eine effiziente Methode ist, um in kürzerer Zeit vielfältige praxisrelevante Kompetenzen zu vermitteln und zu üben. Dennoch bleibt das Problem bestehen, dass ein Studiengang mit vier oder weniger Semestern nicht genug Zeit bietet, um fertige Experten auszubilden. Zwei mögliche Lösungswege werden in der Arbeit vorgestellt.
Auch die interuniversitäre Zusammenarbeit wird in dieser Arbeit diskutiert. Anstatt sich wie gewohnt nur nach Sprachen zu differenzieren, könnten Hochschulen die Kompetenzvermittlung clustern, also jeweils bestimmte Kompetenz-Schwerpunkte (möglichst überschneidungsfrei) in ihr Portfolio aufnehmen. In der vorliegenden Arbeit wird dazu ein Vorschlag unterbreitet.
Literatur
Albl-Mikasa, Michaela (2012): „The importance of being not too earnest: A process- and experience-based model of interpreter competence.“ In: Ahrens, Barbara / Albl-Mikasa, Michaela / Sasse, Claudia (Hrsg.): Dolmetschqualität in Praxis, Lehre und Forschung. Festschrift für Sylvia Kalina. Tübingen: Narr Francke Attempto, 59-92.
DIN 2347 (2017): Übersetzungs- und Dolmetschdienstleistungen – Dolmetschdienstleistungen – Konferenzdolmetschen. DIN Deutsches Institut für Normung e.V., Berlin: Beuth.
Kalina, Sylvia (2000): „Interpreting Competences as a basis and a goal for teaching.“ The Interpreters’ Newsletter 10, 3-32.
Kiraly, Don (2000): A social constructivist approach to translator education: Empowerment from theory to practice. Manchester: St. Jerome.
Kiraly, Don (2012): „Growing a project-based translation pedagogy: A fractal perspective.“ Meta 57 (1), 82-95.
Kutz, Waldimir (2010): Dolmetschkompetenz – Was muss ein Dolmetscher wissen und können? Translatio 2. Berlin: Europäischer Universitätsverlag.
Moser-Mercer, Barbara (2008): „Skill acquisition in interpreting: A human performance perspective.“ The Interpreter and Translator Trainer, 2 (1), 1-28.
Pöchhacker, Franz (2000): Dolmetschen, Konzeptuelle Grundlagen und deskriptive Untersuchungen. Tübingen: Stauffenburg.
Schmitt, Peter A. / Gerstmeyer, Lina / Müller, Sarah (2016) : Übersetzer und Dolmetscher – Eine internationale Umfrage zur Berufspraxis. Berlin: BDÜ Fachverlag.:1. Einleitung: Dolmetschlehre und Praxis
1.1. Neue Herausforderungen für die Lehre
1.2. Dolmetschen 4.0?
1.3. Weiter steigender Bedarf an Dolmetschleistungen
1.4. Praxis- und Marktorientierung in der Ausbildung
1.5. Der Informationsfluss zwischen Praxis und Lehre
1.6. Das Dolmetschen als Dienstleistung
2. Dolmetschen als komplexe Dienstleistung
2.1. Merkmale und Dimensionen von Dienstleistungen
2.2. Der Kunde als externer Faktor
2.3. Dolmetschen: Marktsituation und Berufsbild
2.4. Dolmetschen als komplexe Dienstleistung
2.5. Schlussfolgerungen: Dolmetschen als komplexe Dienstleistung
3. Qualitätssicherung für Dienstleistungen
3.1. Qualitätssicherung als strategischer Erfolgsfaktor
3.2. Grundlagen des Qualitätsmanagements
3.3. Kundenorientierung: Erwartungen und Anforderungen
3.4. Prozessorientierung: Prozesse als Basis des QM
3.5. Ergebnisorientierung: Faktenbasierte Qualitätsbewertung
3.6. Situationalität: Kundenintegration und Moments of Truth
3.7. Schlussfolgerungen: Qualitätssicherung für Dienstleistungen
4. Qualitätssicherung für Dolmetschleistungen
4.1. Einleitung
4.2. Qualitätsrelevante Ansätze in der Dolmetschforschung
4.3. Der Qualitätsbegriff bei Dolmetschleistungen
4.4. Ergebnisqualität: Qualitätsmerkmale von Dolmetschleistungen
4.5. Prozessqualität: Dolmetschen als Service
4.6. Qualitätssicherung: Modelle und Normen
4.7. Qualitätssicherung in der Praxis
4.8. Schlussfolgerungen: Qualitätssicherung für Dolmetschleistungen
5. Situationen, Rollen und Normen
5.1. Bewertungsperspektiven
5.2. Aktantensituationen
5.3. Die Dolmetscher-Perspektive
5.4. Rollen und Normen
5.5. Schlussfolgerungen: Situative Faktoren
6. Praxisanforderungen und Kompetenzen
6.1. Anforderungen an Dolmetschdienstleistungen und ihre Erbringer
6.2. Kompetenzen als Qualifikationsziele der Lehre
6.3. Dienstleistungsspezifische Kompetenzen
6.4. Kompetenzmodelle für Übersetzer und Dolmetscher
7. Zusammenführung: Welche Kompetenzen soll die Lehre vermitteln?
7.1. Kompetenzen von Dolmetschern: Überblick
7.2. Professionelle Kompetenzen für Dolmetscher
7.3. Dienstleistungskompetenz für Dolmetscher
8. Praxisbezogene Ausbildung und situiertes Lernen
8.1. Mehr Praxis- und Situationsbezug für die Dolmetschausbildung
8.2. Soziales und situiertes Lernen
8.3. Projektarbeit mit Kundenkontakt
8.4. Praxis-Projekte mit externen Partnern am IALT
8.5. Ausblick
9. Literaturverzeichnis

Identiferoai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:82961
Date18 January 2023
CreatorsEnde, Anne-Kathrin Diana
ContributorsUniversität Leipzig
Source SetsHochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden
LanguageGerman
Detected LanguageGerman
Typeinfo:eu-repo/semantics/acceptedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text
Rightsinfo:eu-repo/semantics/openAccess

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