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Vertrauen in der Altenpflege: eine Grounded Theory des Vertrauenserlebens in der altenpflegerischen Beziehungsarbeit

Hintergrund: Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und damit
einhergehenden Versorgungsbedarfen älterer pflegebedürftiger Personengruppen
gewinnt die professionelle Altenpflege als Dienstleistungsberuf zunehmend an
Bedeutung. Gleichzeitig zu diesem Bedeutungszuwachs befindet sich die professionelle
Altenpflege in professionstheoretischer Hinsicht an einem Scheideweg (vgl. Twenhöfel
2011). Die Gründe hierfür sind in der Dominanz des Medizinsystems zu suchen sowie in
der Tatsache, dass die Altenpflege sich bislang nicht hinreichend von der Leitdisziplin
emanzipieren konnte. Dabei weist auch die pflegewissenschaftliche
Grundlagendiskussion in diese Richtung: Es ist der Pflegewissenschaft als eigenständiger
Disziplin bislang nicht gelungen, einen eigenen Wissenskanon zu etablieren und den Kern
des Pflegerischen – die Pflege selbst – für sich zu reklamieren. Wissenschaftstheoretische
Bemühungen, diesen Kern des Pflegerischen als eine spezifische Art der
„Beziehungsarbeit“ (vgl. Remmers 2011) zu konturieren, scheinen in diesem
Zusammenhang vielversprechend und erfordern tiefergehende Untersuchungen.
Interessant ist auf dieser Grundlage die Kategorie des Vertrauens als eine eigenständige
pflegewissenschaftliche Kategorie. Bislang hat die deutschsprachige
Pflegeforschungslandschaft hiervon allerdings kaum Notiz genommen, was vermutlich
dem Umstand geschuldet ist, dass Vertrauen in der alltäglichen Praxis als unhinterfragte
Hintergrundfolie fungiert (vgl. Endreß 2002). In der öffentlichen Wahrnehmung ist
zudem ein hoher Vertrauensvorschuss gegenüber der beruflichen Pflege vorhanden, was
tendenziell zu einer größeren Selbstverständlichkeit des Umgangs mit Vertrauen in der
Altenpflege führt. Unklar bleibt bislang, wie sich Vertrauen in der altenpflegerischen
Praxis äußert und welche Kontextfaktoren es in der Altenpflege beeinflussen. Zur
Bearbeitung dieser Forschungslücke kann auf zahlreiche Befunde der interdisziplinären
Vertrauensforschung und der internationalen Pflegeforschung zurückgegriffen werden.
Ziele: Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, einen pflegewissenschaftlichen Beitrag
zur interdisziplinären Vertrauensforschung zu leisten. Dabei soll auf empirische Weise
ein vertieftes Verständnis von Bedingungsfaktoren, Kontexteinflüssen und
Handlungsweisen der in der beruflichen Altenpflege tätigen Personen erreicht werden.
Studiendesign und Methode: Die Studie hat explorativen Charakter, indem sie
subjektive Vorstellungen von Vertrauen in der Altenpflege erfasst und diese durch forscherseitige Abstraktionsleistungen in eine datengesättigte Theorie mittlerer
Reichweite integriert. Die Untersuchung ist dem qualitativen Forschungsparadigma
zuzuordnen und greift auf die Reflexive Grounded Theory (vgl. Breuer et al. 2017)
zurück. Die Reflexive Grounded Theory stellt eine methodologische Weiterentwicklung
der Grounded-Theory-Methodologie (vgl. Strauss u. Corbin 2010) dar. Insgesamt wurden
13 leitfadengestützte Interviews mit Pflegestudierenden, examinierten Altenpflegekräften
und einer Altenpflegehilfskraft geführt und ausgewertet.
Ergebnisse: Vertrauen ist auf vielschichtige Weise Bestandteil der altenpflegerischen
Praxis. Den befragten Personen fällt es vergleichsweise schwer, die Kategorie im
Hinblick auf ihre Bedeutung für den Pflegealltag zu beschreiben und zu erklären. Im
Zentrum der ermittelten Theorie steht die Kernkategorie „Vertrauenserleben in der
altenpflegerischen Beziehungsarbeit“. Um sie herum gruppieren sich verschiedene
Dimensionen: Das Bedingungsgefüge auf personaler Ebene strukturiert die Perspektiven
der Pflegekraft als die eine, und die der pflegebedürftigen Person als die andere Partei der
Beziehungsarbeit. Der situative Kontext integriert weitere intervenierende Bedingungen
(u. a. weitere Beteiligte im Pflegeprozess, die pflegerische Situation, die
Arbeitsbedingungen sowie die materielle Umwelt), welche partiell wechselwirkend mit
dem Vertrauenserleben in der altenpflegerischen Beziehungsarbeit interagieren. Darüber
hinaus konnten verschiedene Handlungsweisen der Pflegekraft identifiziert werden, die
die Kategorie teils förderlich, teils hemmend beeinflussen. Insgesamt wird deutlich, dass
vor allem die Kenntnis professioneller Verhaltenstechniken sowie fürsorgliches
Verhalten das Vertrauenserleben begünstigen, während konfliktäre Verhaltensweisen es
eher beeinträchtigen. Neben diesen direkten Effekten auf das Vertrauenserleben wirkt
sich das Erleben von Vertrauen zudem auf das jeweilige Selbstbild der Pflegekraft aus.
Diskussion und Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse verstehen sich als ein
pflegewissenschaftlicher Beitrag, um den Wissensbestand verborgenen Praxiswissens zu
reflektieren,d zu diskutieren und konzeptionell weiterzuentwickeln. Sie können zu einer
wissenschaftlich fundierten Handlungsorientierung in der Praxis und zur professionellen
Selbststeuerung innerhalb der Disziplin beitragen. Darüber hinaus erlaubt die Grounded
Theory des Vertrauenserlebens in der altenpflegerischen Beziehungsarbeit
konzeptionelle Anschlüsse an zukünftige Forschung.

Identiferoai:union.ndltd.org:uni-osnabrueck.de/oai:repositorium.ub.uni-osnabrueck.de:urn:nbn:de:gbv:700-202104124273
Date12 April 2021
CreatorsMüller, Jan-Bernd
ContributorsProf. Dr. Hartmut Remmers, Prof. Dr. Ingrid Kunze
Source SetsUniversität Osnabrück
LanguageGerman
Detected LanguageGerman
Typedoc-type:doctoralThesis
Formatapplication/pdf, application/zip
RightsAttribution 3.0 Germany, http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/

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