Schaffen es Untersuchungen zum DDR-Bild junger Ostdeutscher in die Medien, was in erster Linie nicht selten im Zuge von begangen DDR-Jubiläen der Fall ist, dann lassen sich dort unschwer Schlagzeilen finden, ebenjene würden die DDR verharmlosen oder wüssten nicht, ob Willy Brandt ein DDR- oder BRD-Politiker gewesen ist. Thematisiert werden in der öffentlichen Diskussion zuvorderst geringe politikgeschichtliche Kenntnisstände der Lernenden, die vor allem eben in den neuen Bundesländern zu geschönten Sichtweisen führen würden – mit familiären Schilderungen eines vermeintlich unbeschwerten Alltags im Fokus, in denen die Diktatur mit ihren politischen Restriktionen gar nicht oder zu wenig vorkomme. Und der Geschichtsunterricht – dem es diesbezüglich nicht an ihn herangetragenen Erwartungen mangelt – vermag daran anscheinend nur sehr wenig zu ändern.
Ausgehend von der Hypothese, dass die hier zugespitzt skizzierte Argumentationslinie zwar bedeutsame Aspekte umfasst, in ihrer simplifizierenden Art und Weise jedoch vor allem den Herausforderungen ostdeutscher Lernender im Umgang mit DDR-Geschichte nicht gerecht wird, bestand das Ziel der Arbeit zum einen in einer kritischen Kontrastierung weiter Teile der öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung mit DDR-Bildern ostdeutscher Schüler*innen. Zum anderen sollten am Beispiel sächsischer Schüler*innen die Herausforderungen im Umgang mit DDR-Geschichte nachgezeichnet werden. Das Erkenntnisinteresse lag dabei einerseits auf deren Wahrnehmung von und dem Umgang mit unterschiedlichen Darstellungen, denen die jungen Menschen in ihrem sozialen Umfeld begegnen. Zum anderen ging es um ein Eruieren jener Aspekte, die für die Befragten ausschlaggebend dafür sind, die DDR (nicht) als Diktatur zu klassifizieren.
Es ist an dieser Stelle mitnichten in Abrede zu stellen, dass die zahlreichen empirisch-quantitativen Befunde jener Studien, die sich der Untersuchung des DDR-Bildes junger (Ost-)Deutscher widmen, eine umfassende und facettenreiche Skizzierung von ebenderen Vorstellungsinhalten ermöglichen. Dennoch gilt es, einem Eindruck entgegenzuarbeiten, den deren interessierter Rezipient allzu leicht gewinnen kann – dass nämlich in diesen Studien gewissermaßen nach dem ‚richtigen’ DDR-Bild bzw. den ‚wirklich wichtigen’ Punkten von DDR-Geschichte gefragt worden sei. Und von dieser ‚Norm’ weichen gerade die ostdeutschen Befragten merklich ab, was an zu geringen Wissensständen und einseitig wohlwollenden Familienerzählungen liege. Zwar wird in der fachdidaktischen Debatte, aber nicht im öffentlichen Diskurs ausreichend transparent gemacht, dass solcherlei Untersuchungen – vor allem die medienwirksamen Untersuchungen von Klaus Schroeder und Kolleg*innen – eine gleichsam als selbstverständlich vorausgesetzte Fokussierung auf politikgeschichtliche Bereiche von DDR-Geschichte legen: Wenn die Resultate dieser Studien dann, wie zweifelsohne geschehen, aus Forscherperspektive ernüchternd ausfallen, so ließe sich die allgemein kolportierte Diagnose, ostdeutsche Lernende wüssten kaum etwas über die DDR, in einer kritischen Perspektive auch wenig präzise oder gar irreführend bezeichnen. Eine – mit Blick auf erinnerungskulturelle Funktionslogiken sowie einschlägige fachdidaktische Überlegungen – angemessenere Einschätzung würde zum einen die seitens der Wissenschaftler in Ansatz gebrachten Bewertungsmaßstäbe reflektieren und könnte anderseits etwa dahingehend lauten, dass die Vorstellungen der jungen Menschen auffällig begrenzte Schnittmengen mit dem Bild des ‚Arbeiter- und Bauernstaates’ im öffentlichen Erinnern aufweisen.
Die quantitativen Befunde lassen demnach durchaus Rückschlüsse auf eine bestimmte Merkmalsverteilung bei den Lernenden zu, ermöglichen jedoch nur sehr bedingt adäquate Aussagen über Spezifika und Relevanz ebendieser Merkmale für die Befragten selbst. Dieser Aspekt konfligiert merklich mit der Schwere der angeführten – wenngleich an sich zweifelsohne legitimen – bildungspolitischen Forderungen nach einer wertorientierten Vermittlung von Geschichtskenntnissen oder einem intensiveren Diskurs über den Diktaturcharakter der DDR im Unterricht. Dessen ungeachtet, dass eine inhaltliche wie praxisbezogene Konkretisierung zur Umsetzung dieser Vorschläge in der Regel nicht erfolgt, bedürfen solcherlei Verlautbarungen einer eingehenderen Ergänzung und Gegenkontrolle – und die vorliegende Arbeit unternimmt einen ebensolchen Versuch. Mit Gruppendiskussionen und Grounded Theory wurde sich für ein qualitatives Untersuchungsdesign entschieden.
Im Ergebnis wurde als Kernkategorie wurde ein – positiv konnotiert zu verstehendes! – Bemühen der Befragten um ein komplexes Verstehen von DDR-Geschichte herausgearbeitet. DDR-Geschichte begegnet den jungen Menschen als vielschichtiges Gebilde – und die Befragten sind bestrebt, diese Komplexität auch für ihr eigenes DDR-Bild aufzugreifen. Nach Darstellungen, in denen die DDR nach deren eigenem Dafürhalten unterschiedlich gut oder schlecht präsentiert wird bzw. in denen es um anscheinend gänzlich verschiedene Aspekte dieses Staates geht, müssen die Befragten in ihrem sozialen Umfeld nicht allzu lang suchen: Vor allem im familiären und schulischen Kontext als den zentralen Bezugsgrößen ihres eigenen DDR-Bildes, werden sie fündig.
Eine weitere Facette der Komplexität ergibt sich daraus, dass es sich bei der DDR um jenen Staat handelt, in dem die Eltern und Großeltern – sowie auch die Lehrer*innen – der befragten Schüler ihre Kindheit und Jugend bzw. einen Großteil ihres Lebens verbracht haben. Diese lebensweltnahe und emotional wirkmächtige Referenz macht den Umgang mit dessen Geschichte nicht leichter, und zwar vor allem dann, wenn einander widerstreitende oder widersprüchliche Darstellungen zu bearbeiten sind.
Schließlich spielt noch der Begriff der Diktatur eine Rolle: Ein Terminus, der, ohnehin schon vergleichsweise abstrakt, für die jungen Menschen sowohl durch die Verquickung mit dem verschiedentlich geschilderten, (vermeintlich) unbeschwerten Alltag ihrer Familie als auch durch die unmittelbare Nähe zum Nationalsozialismus schwierig zu handhaben bzw. für die DDR in Ansatz zu bringen ist.
Die Behauptung, ostdeutsche Schüler wüssten wenig über die DDR, führt mit Blick auf die Befunde dieser Arbeit in die Irre. Fraglos und unbedingt gilt es zu problematisieren, dass die Be-fragten in ihren Darstellungen nur selten jene politikgeschichtlich-normativen Erwägungen in Ansatz bringen, wie sie im kulturellen Gedächtnis vorherrschen. Nichtsdestoweniger ist es unzulässig, diese Diskrepanz zwischen privater und öffentlicher Erinnerung damit gleichzusetzen, die jungen Menschen wüssten nur wenig über die DDR. Einerseits suggeriert eine solche Argumentation, man könne – fachdidaktisch geradezu absurd – ein ‚falsches’ DDR-Bild durch ein ‚richtiges’ ersetzen. Solange es im Zuge von Vermittlungsprozessen nicht gelingt, das seitens der Lernenden ‚mitgebrachte’, stark subjekt- und gefühlsorientiert, gegenständlich und alltagssprachlich ausgeprägte Geschichtsverständnis derart zu modifizieren, dass es sinnhaft an normative Betrachtungsweisen anschlussfähig wird, ist von einem Mehr an politikgeschichtlichen Inhalten etwa im Geschichtsunterricht wenig in Richtung der unterstellten Wirkung zu erwarten. Ohne Zweifel sind ebendiese einem differenzierten DDR-Bild nicht abträglich. Doch solange es an einem belastbaren mehrperspektivischen Verständnis für den Konstruktcharakter von (DDR-)Geschichte als jenem Rahmen fehlt, in den diese Kenntnisse eingebettet werden könnten, würde sich die ohnehin deutlich wahrgenommene Diskrepanz zwischen familiären und schulischen Darstellungen wohl nur noch weiter manifestieren.
Für die jetzige Schülergeneration besteht das Spezifikum von DDR-Geschichte (noch) darin, sich in ihrem sozialen Umfeld lebensweltliche Perspektiven auf ebendiese abholen zu können. Um diesen Umstand als Potential nutzen zu können, braucht es Begegnungsräume, in denen einerseits lebensweltlich und zum anderen fachlich geklärte Vorstellungen systematisch in Beziehung zueinander gesetzt werden. Weil die jungen Menschen im Regelfall hier das erste Mal in einer für sie eindrücklicheren Art und Weise solchen Darstellungen von DDR-Geschichte begegnen, die die familiären Sichtweisen kontrastieren, kommt der Geschichtsunterricht als prädestinierter Ort für ein Übungsfeld infrage, in dem verschiedene Darstellungen von DDR-Geschichte gemeinsam als solche kenntlich gemacht, aufeinander bezogen und hinsichtlich auftauchender Widersprüche diskutiert werden können. Für die hier befragten Schüler*innen war er dies allem Anschein nach nicht.:1. EINLEITUNG
1.1 In eigener Sache
1.2 Zum grundlegenden Erkenntnisinteresse und dem Aufbau der Arbeit
2. ZWEIERLEI DDR? – PRIVATES UND ÖFFENTLICHES ERINNERN IM WIDERSTREIT
2.1 Vom Erinnern im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis
2.2 Niemand hat die Absicht einen Konsens zu errichten? – Spannungspunkte und Kontroversen in der Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte
2.2.1 Zeitgeschichte DDR: ein alltagsweltliches Phänomen im wissenschaftlichen Zugriff
2.2.2 Notwendigkeit und Dilemma – die DDR als Diktatur im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs seit der Wiedervereinigung
2.2.3 Alltag in der Diktatur – Diktatur im Alltag
2.3 Zwischenfazit: Die DDR – keine ganz einfache Geschichte im wieder- vereinigten Deutschland
3. EMPIRISCHE ERGEBNISSE ZUM DDR-BILD VON SCHÜLERN IN DEUTSCHLAND – EIN KOMMENTIERTER ÜBERBLICK BISHERIGER BEFUNDE
3.1 Deutsche Shell 1992
3.2 Borries 1995
3.3 Arnswald 2005
3.4 Thüringen- und Sachsen-Anhalt Monitor
3.4.1 Thüringen-Monitor 2005, 2006 und 2007
3.4.2 Sachsen-Anhalt Monitor 2007 und 2009
3.5 Deutz-Schroeder / Schroeder 2008
3.6 Schröter 2008
3.7 Dietzel 2009
3.8 Hanisch 2010
3.9 Schroeder u.a. 2012
Exkurs: Facetten des ostdeutschen DDR-Bildes und Implikationen für die politische Kultur
4. OSTDEUTSCHE SCHÜLER UND DDR-GESCHICHTE – WEITERFÜHRENDE VERSTÄNDNISKONTEXTE UND DIE FORSCHUNGSLEITENDE FRAGESTELLUNG
4.1 Überlegungen zum Zusammenhang familiärer Erzählungen und wohlwollender Sichtweisen auf die DDR
4.2 Von Unwägbarkeiten und unterschiedlichen Wegen des Umgangs mit ‚mitgebrachten’ DDR-Bildern
4.3 Ein adäquater Umgang mit Geschichte?! – theoretische Ansprüche und empirische Befunde
4.4 „Das muss man doch wissen!” – Überlegungen zum Duktus der öffentlich-medialen Debatte
4.5 Zur forschungsleitenden Fragestellung
5. ZUM METHODISCHEN UND FORSCHUNGSPRAKTISCHEN VORGEHEN
5.1 Möglichkeiten und Grenzen quantitativer Studien zu DDR-Bildern junger Menschen
5.2 Ein qualitatives Forschungsdesign – Gruppendiskussionen und Grounded Theory
5.2.1 Die Gruppendiskussion als Erhebungsinstrument
5.2.2 Anmerkungen zur Stichprobe
5.2.3 Zur Verwendung der Grounded Theory in meiner Arbeit
6. AUF DEM WEG ZUR THEORIE DES UMGANGS DER BEFRAGTEN MIT DDR-GESCHICHTE
6.1 Überlegungen zu ersten Annäherungen an das Material
6.2 Der Umgang mit für das eigene DDR-Bild als wichtig erachteten Bezugspunkten
6.3 Das Thematisieren alltagsweltlicher und politischer Facetten der DDR
6.4 Die Positionierung zur Frage nach dem Diktaturcharakter der DDR
6.5 Weiterführende ‚paradigmatische’ Überlegungen zu einem für die Schüler anspruchsvollen und sinnhaften Umgang mit DDR-Geschichte(n)
6.5.1 Das Bestreben, für das eigene DDR-Bild als wichtig erachtete, unterschiedliche Darstellungen von DDR-Geschichte zu berücksichtigen – die erste Ausprägung der Kernkategorie
6.5.2 Das Bestreben, sich für das eigene DDR-Bild heutige Gegebenheiten im Vergleich zu den damaligen Verhältnissen zu plausibilisieren – die zweite Ausprägung der Kernkategorie
6.5.3 Das Auseinandersetzen mit dem Begriff der Diktatur – die dritte Ausprägung der Kernkategorie
6.6 Die Theorie eines subjektiven Umgangs mit DDR-Geschichte im Überblick
6.6.1 Das Bemühen um ein komplexes Verstehen von DDR-Geschichte – die Kernkategorie
6.6.2 Das Bestreben, für das eigene DDR-Bild als wichtig erachtete, unterschiedliche Darstellungen von DDR-Geschichte zu berücksichtigen – die erste Ausprägung der Kernkategorie
6.6.3 Das Bestreben, sich für das eigene DDR-Bild heutige Gegebenheiten im Vergleich zu den damaligen Verhältnissen zu plausibilisieren – die zweite Ausprägung der Kernkategorie
6.6.4 Das Auseinandersetzen mit dem Begriff der Diktatur – die dritte Ausprägung der Kernkategorie
7. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
7.1 Die Befragten und unterschiedliche Darstellungen von DDR-Geschichte: Wahrnehmung, Erklärung, Umgang, Folgen
7.2 Die Befragten und restriktive bzw. alltagsweltliche Facetten der DDR
7.3 Die Befragten und der Diktaturbegriff
7.4 Abschließende Einsichten
8. ANHANG
8.1 Diagramme und Tabellen
8.2 Literaturverzeichnis
8.2.1 Monographien & Aufsätze
8.2.2 Internetquellen
9. ERKLÄRUNG ZUR SELBSTSTÄNDIGEN ANFERTIGUNG DER DISSERTATION
Identifer | oai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:74073 |
Date | 01 March 2021 |
Creators | Hanisch, Norbert |
Contributors | Patzelt, Werner J., Besand, Anja, Technische Universität Dresden |
Source Sets | Hochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden |
Language | German |
Detected Language | German |
Type | info:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:doctoralThesis, info:eu-repo/semantics/doctoralThesis, doc-type:Text |
Rights | info:eu-repo/semantics/openAccess |
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