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Politische Philosophie im 20. Jahrhundert: von Max Weber bis Giorgio Agamben

Für die folgende Darstellung der Politischen Philosophie im 20. Jahr
hundert sind insbesondere drei Kategorienpaare leitend: Souveränität
und Legalismus, Gewalt und Recht, Gemeinschaft und Gesellschaft. Es
handelt sich dabei nicht schlechthin um Gegensätze, sondern um Be
griffe, welche das Ausmaß von einander überlappenden Problemfeldern
abstecken. Deren Bearbeitung entscheidet darüber, wie jene Begriffe
verstanden oder konzipiert werden, welche heute oftmals als vermeint
lich selbstverständliche Antworten auf alle Fragen der Politik und der
Politischen Philosophie präsentiert werden: Demokratie, Rechtsstaat,
Menschenrechte, Marktwirtschaft. Die vorgestellten und diskutierten Po
sitionen wurden danach ausgewählt, ob sie die leitenden Kategorien
paare auf paradigmatische Weise zu bestimmen versuchen und ob sie
daher geeignet sind, zu zeigen, dass die vermeintlich selbstverständlichen
Antworten konzeptuell ganz unterschiedliche Bedeutungen annehmen
können. Aufgrund dieser eher begrifflich-systematischen Orientierung
erfolgt die Darstellung der einzelnen Positionen nicht streng nach der
Chronologie. Die ersten drei Kapitel stellen eine Art Exposition in die
Themen- und Problemfülle dar. Im Zentrum der nächsten beiden Ka
pitel steht das Problem von Recht und Gewalt sowie seine Bedeutsam
keit für das Problem von Souveränität und Legalismus. Das sechste
Kapitel beschäftigt sich mit dem Totalitarismus, in dem die Probleme der Politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts in ihrer extremsten
Zuspitzung erscheinen, was aber vielleicht erst nach den drei letzten
Kapiteln zur Biopolitik ganz deutlich wird. Die Kapitel sieben bis neun
diskutieren Konzepte der Demokratie und des Rechtsstaates.
Politische Philosophie wird seit dem Beginn der Neuzeit in ihrem Kern
als Staats- und Rechtsphilosophie verstanden. Von diesem Vorverständ
nis wird auch hier ausgegangen. Es wird sich aber zeigen, dass die The
men der Politischen Philosophie nicht behandelt werden können, ohne
weitere Disziplinen einzubeziehen. Insbesondere zu nennen sind die An
thropologie, die Ethik, die Gesellschaftstheorie und die Geschichtsphi
losophie. Durch diese systematischen Beziehungen erweist sich die Po
litische Philosophie als ein Zentrum der Epochenanalyse, was für die
Moderne bedeutet, dass die philosophische Reflexion der Technikent
wicklung und der Entstehung der Politischen Ökonomie grundlegende
Bedeutsamkeit erlangen. Es sind nicht zuletzt solche Reflexionen, wel
che in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu führen, die Frage
nachdemVerhältnis von Politik undLeben auf eine solch grundsätzliche
Weise neu zu stellen, die besonders bei Hannah Arendt und Giorgio
Agamben mit einem gewissen Neoaristotelismus einhergeht, der den
Weg weist zur Überwindung der radikalen Verabschiedung aristoteli
scher Paradigmen aus der Politischen Philosophie, wie sie insbesondere
von Thomas Hobbes, aber nicht nur von ihm, am Beginn der Neuzeit
betrieben wird. Der Themenbereich, für den das Schlagwort Biopolitik
steht, veranlasst aber in historischer Hinsicht nicht nur den Rückgriff
auf antike Philosophie, sondern auch die Beschäftigung mit theologi
schen Paradigmen der Politik: Michel Foucaults Darstellung der Pasto
ralmacht als Vorläuferin für Techniken der Biomacht ist ebenso zu nen
nen wie Agambens Untersuchungen über das Reich, die Herrlichkeit
und die Ökonomie in christlichen Kontexten. Die kritische Reflexion
der theologischen Prägung politischer Kategorien bleibt in der folgen-
den Darstellung weitgehend ein Desiderat, dass nur durch die Empfeh
lungen zur weiteren Lektüre gemildert wird. Außerdem verweisen diese
Empfehlungen auf einige nicht besprochene Standardwerke aus dem
20.Jahrhundert sowie auf neuere Literatur seit der Jahrtausendwende.
Heutige Realpolitik steht vor globalen Herausforderungen und muss
daher wesenhaft Geopolitik sein, wofür aber zumeist die Institutionen
mit den entsprechenden Befugnissen noch fehlen. Nicht zuletzt deshalb
erscheint berufspolitisches Handeln oft als Stückwerk oder gar als hilflos. Die Reaktionen auf diese Situation fallen unterschiedlich, sogar
gegensätzlich aus: politikverdrossener Rückzug aus der Öffentlichkeit,
politisches Engagement in Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorga
nisationen, politischer Extremismus. Was in einer Medien-Spektakel-
Gesellschaft, in der die Meinungsbildung nicht unwesentlich von einem
Konglomerat aus Journalismus und Lobbyismus bestimmt wird, mög
licherweise in allen Fällen fehlt, sind die Muße und die Bereitschaft zur
theoretischen Betrachtung und damit zum grundsätzlichen Fragen über
die Tagespolitik hinaus. Für solche Betrachtungen ist es notwendig,
selbst zu lesenundselbst zu denken: Selbstbildung statt Meinungsbildung
durch »Information«. Dafür möchte dieses Buch Anregungen, Hinwei
se und eine erste Hilfestellung bieten. Es beschränkt sich daher nicht auf
die Darstellung gesicherten Wissens, sogenannter Lehrmeinungen, son
dern enthält auch Interpretationen und Positionen, über die gestritten
werden kann und soll.
Hervorgegangen ist dieses Buch aus Vorlesungen, die ich an den Uni-
versitäten in Stuttgart, Leipzig und Mainz gehalten habe. Ich danke all
jenen, die meine Lehrveranstaltungen und Vorträge zu Themen der Poli
tischen Philosophie besuchten und mit mir diskutierten.

Identiferoai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:87673
Date26 October 2023
CreatorsFischer, Peter
PublisherRosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V.
Source SetsHochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden
LanguageGerman
Detected LanguageGerman
Typeinfo:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:book, info:eu-repo/semantics/book, doc-type:Text
SourceTexte zur Philosophie
Rightsinfo:eu-repo/semantics/openAccess
Relationurn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-876710, qucosa:87671

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