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Menschsein: Studien zur Philosophischen Anthropologie und Geschichte

Die nach den gegebenen Bestimmungen für das menschliche Wesen
konstitutive Geschichtlichkeit sollte nicht als dessen unbegrenzte Plasti
zität missdeutet werden. Marx weist de facto auf dreierlei Weise auf
Grenzen der Formbarkeit des menschlichen Wesens hin. Erstens be
nennt er das, was für menschliches Leben immer notwendig ist: die Be
friedigung der Grundbedürfnisse, die Fortpflanzung, die Arbeit und
die prinzipiell soziale Form in der dies alles vollzogen wird, also die
Notwendigkeit des Zusammenlebens. Das Notwendige ist die absolute
Grenze der Plastizität; seine Berücksichtigung ist unverzichtbar für je
de Thematisierung des menschlichen Lebens. In theoretischer Hinsicht
stellt seine Entfremdungstheorie einen zweiten solchen Hinweis dar,
denn Entfremdung bedeutet immer eine Selbstgefährdung des Menschen
in seinem Menschsein oder zumindest eine solche für bestimmte Grup
pen. Als empirische Belege für die Grenzen der Plastizität des mensch-
lichenWesens können drittens die vielen Statistiken gelten, die Marx im
ersten Band seines Hauptwerkes anführt und die zeigen, welche nega
tiven Auswirkung bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, insbeson
dere Arbeitsbedingungen, auf die Gesundheit und auf die Lebens-
erwartung der Menschen haben.
Mit der Thematisierung von Grenzen der Plastizität des menschlichen
Wesens wird deutlich, dass die Anthropologie als normativer Maßstab
der Beurteilung geschichtlicher Entwicklungen fungieren kann. Das
Verhältnis von Anthropologie und Geschichte könnte also auf die For
mel gebracht werden: Geschichtlichkeit und Geschichte sind konstitutiv
für die Anthropologie, und diese Anthropologie ist zugleich ein Maßstab
zur Beurteilung der Geschichte.
Die hier kurz skizzierten Grundgedanken zum Thema Anthropologie
und Geschichte sowie sich aus ihnen ergebende methodologische Prin
zipien bilden den Hintergrund der vorliegenden Studien. Diese sind the
matisch unterschiedlichen Aspekten des Menschseins gewidmet: der
geschichtlichen Bedeutung von Ritus und Mythos; der Unterscheidung
von Vermögen, Fähigkeit und Fertigkeit; dem Zusammenhang von tech
nischer und psychischer Entwicklung; der anthropologischen Deutung
von Befindlichkeit und Tod; den Problemen bei der Beurteilung des
Fortschritts in der Geschichte und der Frage nach der einheitlichen
Anwendbarkeit des Entwicklungsgedankens in Natur und Geschichte.
Konzeptuell wird es unter anderem darum gehen, inwiefern die von
Marx angedeutete Unterscheidung geistiger Aneignungsweisen zu einer
entsprechenden Theorie ausgebaut werden kann, indem Ansätze und
Ergebnisse der Philosophie der symbolischen Formen (Cassirer), der
Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts (Plessner, Geh
len) und der Existenzialphilosophie (Heidegger) in diesem Sinne inter
pretiert werden. Weitere konzeptuelle Aspekte sind die Bedeutung von
Existenzialien als Schnittstellen zwischen der Anthropologie und der
Diskussion existenzieller Probleme der Menschen, aber auch das Ver
hältnis zwischen empirischen Forschungen und der Philosophischen
Anthropologie.
Die durchgängige Thematik – Anthropologie und Geschichte – so
wie der Anspruch, dass jede Studie für sich stehen können soll, lassen einige wenige Redundanzen unvermeidlich werden. Sie betreffen einige
Grundbegriffe sowie gewisse methodische Grundsätze. Aber man sagt
ja von alters her, Wiederholung sei die Mutter der Weisheit: Repetitio
est mater studiorum.
Das Literaturverzeichnis bezieht sich auf alle Texte dieser Sammlung
und darf daher vielleicht als eine kleine Auswahlbibliographie zum The
ma Anthropologie und Geschichte gelten. Obwohl jede Studie für sich stehen können soll, könnte sich doch ein
gewisser Sinn ergeben, wenn die Texte ihrer Reihenfolge nach gelesen
werden.

Identiferoai:union.ndltd.org:DRESDEN/oai:qucosa:de:qucosa:87674
Date26 October 2023
CreatorsFischer, Peter
PublisherRosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V.
Source SetsHochschulschriftenserver (HSSS) der SLUB Dresden
LanguageGerman
Detected LanguageGerman
Typeinfo:eu-repo/semantics/publishedVersion, doc-type:book, info:eu-repo/semantics/book, doc-type:Text
SourceTexte zur Philosophie
Rightsinfo:eu-repo/semantics/openAccess
Relationurn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-876710, qucosa:87671

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